Totenstadt
Lorginia lebte schon seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr bei ihnen und war jetzt Mitte zwanzig. Sie war auf ihre Art recht anziehend.
»Hast du schon mal überlegt, dass ihn die Mädchen vielleicht mögen könnten?«, meinte er.
Evelyn verdrehte die Augen und wischte sich mit dem Handrücken eine lockige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich weiß, wie Liebe aussieht und wie Furcht, und auch wenn sich beide im Herzen ähnlich anfühlen mögen, so sehen sie in den Augen doch völlig anders aus. Nein, Drew, sie mag diesen Mann nicht. Wie lange wird er denn nun noch bleiben?«
»Er hat hier geschäftlich noch einiges zu erledigen, dann macht er sich wieder auf den Weg.«
Evelyn ließ den Deckel des Schreibtischaufsatzes mit lautem Knallen herab. Offenbar hatte sie nicht vor, den Brief noch in dieser Nacht zu beenden. »Was denn für Geschäfte? Er verlässt ja kaum das Haus! Er ist ein- oder zweimal mit dir mitgefahren, und dein Bruder hat ihm einige Male einen Wagen geschickt. Und ehrlich gesagt macht mir das noch viel mehr Angst, dass er etwas mit Nathan zu schaffen hat.«
»Ich werde mit ihm reden«, versicherte Mullavey ihr und verließ den Raum. Er wusste sehr gut, dass er die Frage nicht wirklich beantwortet hatte. Evelyn ging davon aus, dass Faconde ein Spediteur aus der Karibik war, der mit Nathan über die Einzelheiten eines Vertrags über Seeimporte an den Docks verhandelte. Als sie anfänglich wissen wollte, warum er bei ihnen und nicht bei Nathan wohnen müsse, hatte er Evelyn gesagt, dass der Haitianer an größere Quartiere gewöhnt sei, was durchaus nicht gelogen war. Nathan lebte mit seiner Frau, seiner zweiten, zwei Stockwerke über dem Charbonneau’s. Er liebte die Nähe und Vitalität des French Quarter, aber Faconde wäre dort klaustrophobisch geworden.
Warum kein Hotel?, hatte sie erwidert. Er mochte keine amerikanischen Hotels, war Mullaveys Antwort. Das war ihr leichter zu erklären als die Umstände von Facondes Einreise in das Land, außerdem wollten sie ihn an einem Ort unterbringen, an dem sie ihn im Auge behalten konnten. Eine öffentliche Indiskretion – zu denen er aufgrund seines Egos gelegentlich neigte –, und sein nicht vorhandenes Visum würde große Probleme verursachen.
Das Schlafzimmerlicht erlosch hinter Mullavey, als er durch die Halle ging. Evelyn legte sich schlafen; er konnte an den vertrauten Geräuschen hören, wie sie es sich in ihrem Bett bequem machte. Er lag oft auf seiner Seite, döste und hörte, wie sie langsam im Schlaf atmete, in einem tiefen, gleichmäßigen Rhythmus. Das hatte ihn schon als kleiner Junge stets beruhigt, wenn er sein Zimmer verlassen und sich vor dem Schlafzimmer seiner Eltern hingelegt hatte, um ihren Geräuschen im Schlaf zu lauschen und so sicherzugehen, dass es beiden gut ging.
Evelyn. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie etwas an Facondes Anwesenheit auszusetzen hätte. Sie hatte sich in den letzten Jahren verändert und nahm nicht immer alles, was er ihr erzählte, für bare Münze. Er erinnerte sich wehmütig an die Zeit, als eine Frau die Geschäfte oder Partner ihres Ehemannes noch nicht infrage zu stellen wagte. Vielleicht war das eine natürliche Nebenerscheinung des Älterwerdens. Seiner Meinung nach reichte den jüngeren Frauen allein die Liebe, und das war auch richtig so. Je mehr Jahre vergingen, desto genauer wollte eine Ehefrau das Leben ihres Mannes unter die Lupe nehmen. Sie wurde fordernder, und das war lästig.
Er ging durch die Gänge, die Korridorlampen gaben ein schwaches Licht ab, und sein Weg führte ihn in den anderen Flügel. Die Tür zu Facondes Gästezimmer – dem besten und größten, das nur die besonderen Gäste bekamen – war geschlossen, und Mullavey stand einen Augenblick davor. Er lauschte.
Er war nicht allein da drin, das wurde rasch offensichtlich. Bei einem Mann seiner Größe konnten die Bettfedern schon ziemlich laut knarzen.
Nun, er konnte es auch andersherum sehen. Luissant Faconde konnte unter seinem Dach durchaus mit ein wenig Nachsicht rechnen, schließlich verdiente Mullavey eine glatte Million an ihm, und Nathan ebenfalls. Aal bekam außerdem nicht gerade einen Hungerlohn. Und hätte er einen kühlen Kopf bewahrt, dann hätte Ty Larkin ebenfalls von ihm profitiert.
Wenn er darüber nachdachte, wie es sein musste, so viel Geld zum Verpulvern zu haben, fragte sich Mullavey manchmal, ob er in den falschen Lebensstil hineingeboren worden war. Oh, das Leben als Konzernchef hatte so seine
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