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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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Männern. Wenn man ein Geschäft mit Andrew Jackson Mullavey oder Nathan Forrest abschloss, war es so üblich, dass es als Bonus eine weibliche Begleitung gab. Huren waren Schrullen gewöhnt; wenn ihnen derjenige, der ihre Rechnungen zahlte, noch etwas mehr hinblätterte, dann schnitten sie einem schlafenden Kunden auch Haare und Nägel ab und würden nicht mal im Traum daran denken, nach dem Grund dafür zu fragen.
    Leonard Greenwald war ein leichtes Ziel gewesen. Aber Justin Gray, so ein Spinner war ihm selten untergekommen, er hatte seine Hure abgewiesen, und es war ihr einfach nicht gelungen, ihn schlafend anzutreffen und so den Job zu erledigen. Seltsam, ein Kerl wie der dachte nicht wie ein normaler Mensch, und das machte ihm Sorgen. Doch er stellte eine absolute Minderheit dar, denn in Aals unterirdischer Kammer standen Hunderte dieser kleinen Töpfe, in denen er die gefangenen Seelen aufbewahrte. Mullavey war selbst zweimal dort unten gewesen. Aal ließ ihm hier oben im Charbonneau’s oder draußen in Twin Oaks schon Schauer über den Rücken laufen, aber auf seinem eigenen Terrain verstärkte sich dieser Eindruck ins Unermessliche.
    Doch einem Haitianer die Seele zu stehlen war eine völlig andere Angelegenheit. Sie waren nicht dumm und ahnten ziemlich genau, was man mit diesen vom Körper stammenden Dingen machen konnte, und sie würden lieber ohne Seele sterben, als sie sich von jemandem wie Aal nehmen zu lassen. Bis jetzt hatte Mullavey auch noch keinen Anlass gehabt, dies zu versuchen.
    Aber was hatte es ihm gebracht, dass er verhindern wollte, die Bewohner von Twin Oaks zu erzürnen?
    Manchmal war er einfach zu gut zu seinen Untergebenen.
     
    Mullavey kam in dieser Nacht gegen zehn Uhr nach Hause. Das riesige Haus mit seinen Hallen und Gängen lag still da, und so spät am Abend klangen seine Schritte noch viel schwerer und einsamer. Die Hausangestellten hatten ihr Tagwerk beendet und sich in ihre Zimmer im Gäste- und Angestelltenflügel zurückgezogen, und das Haus kam ihm irgendwie leerer vor. Der Lebensfunke, den sie ihm während ihrer täglichen Routine einhauchten, war erloschen.
    Er fand Evelyn im großen Schlafzimmer, wo sie an einem großen Schreibtisch mit Rollschrank in der Nähe der Feuerstelle saß und einen Brief schrieb. Er sah ihr insgeheim zu; sie hatte ihn noch nicht bemerkt, da er sich wie immer sehr leise bewegt hatte.
    Evelyn war sieben Jahre jünger als er und nun Mitte vierzig, was man seit kurzer Zeit auch sehen konnte. Er studierte ihr Gesicht, das er zu drei Vierteln sehen konnte, und ihren Körper, der gerade und mit einem knöchellangen Seidennachthemd bekleidet dort saß. Ihr Haar war weich und goldbraun und fiel ihr üppig bis auf die Schultern. Ihre Brust schien neuerdings schwerer zu sein, eher ein matronenhafter Busen, was ihm durchaus gefiel. Sie war die Mutter seiner Kinder und entsprach nun, da beide Kinder aus dem Haus waren, langsam dem Bild, das er seit jeher von ihr gehabt hatte.
    Sie sah auf, erblickte ihn und schenkte ihm ein Lächeln, das die Augen nicht ganz erreichte.
    »Wem schreibst du?«, wollte er wissen.
    »Meiner Schwester. Ich bin fast fertig.«
    Das mochte Mullavey an seiner Frau; sie war der einzige Mensch, den er kannte, der Briefe schrieb, handgeschriebene Briefe, an Freunde und die Familie in Baton Rouge, Shreveport, Atlanta und überall. Evelyn nannte es eine aussterbende Kunst, die sie bis zu ihrem Todestag beibehalten wolle. Das ist meine Frau, sie hält die Tradition aufrecht.
    Sie legte ihren Stift beiseite und ließ den Brief unvollendet.
    »Drew«, sagte sie, leicht gereizt. »Wie lange wird sich dieser Mann noch unter unserem Dach aufhalten?«
    Ah. Luissant Faconde, der haitianische Flüchtling. Das hatte er sich auch schon gefragt.
    Evelyn fuhr fort. »Du hast mir was von zwei Wochen gesagt. Jetzt ist er schon einen Monat hier, und ich weiß immer noch nicht, was er überhaupt hier will. Die Mädchen haben alle Angst vor ihm, vor der Art, wie er sie ansieht, und ich weiß, dass wenigstens eine von ihnen sich ihm bereits mehrfach hingegeben hat. Ich will nicht, dass unsere Mädchen sich wie Konkubinen fühlen, Drew. Als ob so etwas von ihnen erwartet würde.«
    »Mit wem war er zusammen?« Seine Frage kam ganz ruhig, auch wenn er dachte: Bitte nicht Clarisse, nicht sie …
    Evelyn faltete die Hände und schnaubte. »Was macht das denn für einen Unterschied? Es geht ums Prinzip.«
    »Wer war es?«
    »Lorginia.«
    Mullavey nickte.

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