Totenstadt
mir nicht erzählen, dass dieses Pulver nicht auch bei vielen Leuten außerhalb der Pharmaziebranche das Interesse geweckt hat.«
Moreno lachte plötzlich auf, und sein Lachen war voller Herzlichkeit. »Sie haben eine ziemliche Paranoia, was?« Er versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken. »Okay, Spaß beiseite. Sehen wir es mal rein wissenschaftlich. Ein so gut wie nicht aufzuspürendes Gift mit solchen Auswirkungen, ja, das würde wirklich eine Menge Leute interessieren. Man könnte es in flüssiger Form in eine Flasche Aftershave oder einen Parfumzerstäuber füllen. Oder es in einem Betäubungspfeil verschießen. Damit ließe sich eine Menge anfangen. Aber: Diese Bokors, die es herstellen … die nehmen ihre Arbeit ernst, die bewachen derartige Rezepte mit ihrem Leben. Das ist eine Gesellschaft, in die man sich nicht einfach so integrieren kann. Ich vermute, das ist Ihnen klar.«
Justin nickte. »Das wäre eine Herausforderung, was?«
Es gab keine Barrieren, die gut versteckte Finanzen nicht überbrücken konnten. Und bei der ärmsten Nation in der westlichen Hemisphäre würde es nicht lange dauern, bis man jemanden fand, mit dem man die Geheimnisse teilen konnte. Den Mullaveys war es ganz offensichtlich gelungen, sich dies zunutze zu machen, überlegte er.
Sie unterhielten sich noch fast eine Stunde lang, bis Moreno verkündete, dass sie noch einen oder zwei Tage an diesem Ort festsitzen würden. Er wollte einige Erkundigungen über die Mullaveys einholen, um zu sehen, ob es irgendwo ein Leck gab, das man ausnutzen konnte. Er warf seinen Koffer auf Granviers Bett, öffnete ihn, schob einige Unterwäschestücke und Socken beiseite und drückte dann an einigen Stellen, um einen eingefügten falschen Boden zu entfernen.
»Die werde ich hier lassen«, sagte er und hob eine Automatikpistole aus blauem Stahl aus dem Koffer. Er sah Justin und April an. »Hat einer von Ihnen Erfahrung mit Schusswaffen?«
Justin machte eine abwägende Handbewegung. »Ein wenig. Ich kenne mich mit einer Beretta aus.« Er zeigte auf die Pistole auf dem Bett. »Das ist eine … was?«
»SIG Sauer zwei-zwanzig-sechs, neun Millimeter. Fünfzehnschussmagazin, in der Feuerkraft also vergleichbar mit einer Beretta, aber ich finde, diese liegt besser in der Hand. Die Navy-SEALs setzen diese hier jetzt auch als Ersatzwaffe ein, was meiner Ansicht nach für sie spricht.«
Justin testete ihre Balance, holte eine Kugel aus der Kammer, nahm dann das ganze Magazin heraus und ersetzte die Kugel. Es war einige Zeit her. Dann schob er sie über den Tisch hinweg zu April, damit sie ein Gefühl dafür bekommen konnte.
Moreno rief ein Taxi, das ihn zum Flughafen bringen sollte, dann hätten sie noch seinen Mietwagen zur Verfügung. Er gab Justin und April eine Visitenkarte, auf der nur seine Firmennummer in Miami stand. Granvier hatte vermutlich schon eine.
»Rufen Sie an, wenn irgendetwas passiert, was es auch sei. Selbst wenn ich an einem Ort bin, an dem mich meine Leute nicht erreichen können, werde ich versuchen, in spätestens neunzig Minuten zurückzurufen. Ich bin also nicht so weit weg von Ihnen.«
Moreno stand an der Tür, sein wieder zusammengebauter Koffer stand wie ein gehorsames Haustier zu seinen Füßen, und er wartete, bis das Taxi eintraf. Justin zählte mit.
Er hatte nur vier Mal auf die Uhr gesehen.
23
D IE GÖTTLICHEN R EITER
Napoleans Welt war erneut auf tröstliche Weise klein geworden, er lebte hier in der South Rampart in einem Geschäft, das einer Frau namens Mama Charity gehörte. Es gab keinen Grund zur Eile, und er war in Sicherheit. Wahrscheinlich konnte er hier sogar endlich seine Haare zu Dreadlocks wachsen lassen, wie er es schon seit Jahren wollte; Mr Andrew hatte es ihm stets verboten, da sein Chauffeur nicht wie ein Rasta aussehen sollte.
Aber hier war alles anders.
Das Mama’s war eine helle Welt voller staubiger Mysterien. Die Regale waren vom Boden bis zur Decke voll mit den Zutaten für Heilmittel, Geisterbeschwörungen und Rituale. Da gab es Kerzen in allen Größen, in allen Regenbogenfarben und ausgesprochen finstere. Behälter voller Wurzeln, die wie die knorrigen Finger uralter Götter aussahen. Allgemein bekannte und geheimnisvolle Gewürze, Stoffbeutel, große und kleine Flaschen. Gläser voll mit absonderlichen und bizarren Kuriositäten: schwarzen Katzenknochen, Klapperschlangenfängen, Graberde, die in der Nähe des Grabes von Marie Laveau höchstpersönlich gesammelt worden sein sollte
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