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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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überlassen sollte. Aber mein mittlerer Ehemann, das war ein guter, guter Mann. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich ihn nicht vermisse.«
    Mama Charity lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte ihn, wie er in lässiger Haltung am Tresen lehnte. »Und jetzt hör mir gut zu, du weißt viel mehr über mich, als ich über dich, und wenn du denkst, du könntest mich mit deinem falschen jamaikanischen Akzent übers Ohr hauen, dann hast du dich getäuscht. Das ist ein guter Akzent, aber meine Ohren sind noch viel besser. Also warum versuchst du es nicht zur Abwechslung mal mit der Wahrheit?«
    Die ganze Woche lang hatte Napolean mit sich gerungen, ob er ehrlich zu ihr sein sollte oder ob die Wahrheit ohne Bedeutung sei. Würde sie ihn zurück auf die Straße werfen, wenn sie wüsste, dass man nach ihm suchte? Nein, das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, und vielleicht hatte er die Wahrheit einfach zurückgehalten, um ihr unnötige Sorgen zu ersparen.
    Aber sie hatte es so gewollt, sie hatte darum gebeten. Er würde alles erzählen.
    Und als er seine kurze, aber traurige Geschichte über sein Chauffeurdasein, den Mord in dieser Nacht und seine panische Flucht in die Anonymität beendet hatte, schaukelte Mama Charity ein wenig schneller und entschlossener. Ihr rundliches Kinn sah nun angespannter aus und spiegelte ihr Misstrauen gegenüber der öffentlichen Meinung wider.
    »Andrew Jackson Mullavey.« Ihre Stimme klang geladen und hochnäsig. »Ich habe ihn nie gemocht. Dieser Mann war immer irgendwie ein wenig zu glatt, als wolle er für ein Amt kandidieren und hätte nur vergessen, es allen mitzuteilen. Ich kann auch nicht behaupten, dass ich seinem Bruder trauen würde, aber der verlangt es auch nicht, daher verspüre ich ein Quäntchen mehr Respekt für Nathan Forrest, wenn du mich fragst.« Sie verdrehte die Augen. »Aber wie kam es, dass du für so einen Mann gearbeitet hast?«
    Napolean spürte den Besen in seiner Hand, fest und real, so gegenwärtig, er war in dieser Woche so sehr ein Teil von ihm geworden, dass ihm das Lenkrad schon beinahe fremd erschien. »Wir sind aus Haiti gekommen, als ich noch ein Junge war. Ich war … zwölf? Dreizehn? Ich erinnere mich an kaum noch etwas aus meinem Leben davor. Mein Leben seitdem … es schien irgendwie immer klar, dass ich für ihn arbeiten würde, wenn ich alt genug war. Ich hätte nie gedacht, dass es mal anders kommen könnte.«
    Ihre Augen waren nun nur noch schmale Schlitze. »Du hast ›wir‹ gesagt. Wie viele von euch sind aus Haiti gekommen?«
    »Vielleicht sechzig, fünfundsechzig.«
    »Alle auf einmal?«
    »Ja, ich glaube schon. Ich erinnere mich, dass wir auf einem Schiff waren. Mein Vater sagte zu mir, dass uns ein neues Leben erwarte, ein besseres Leben als das, was wir zu Hause führen könnten. Und das war es. Ich hatte ein eigenes Bett.«
    »Wo ist dein Daddy jetzt?«
    »Er starb, nachdem wir hierhergekommen waren. Es war etwa drei Jahre später, glaube ich. Er hatte ein schlimmes Herz.«
    »Mm-hmmm. Und wenn du mir die Frage gestattest, was haben sie mit deinem Daddy gemacht, nachdem er gestorben war?«
    »Einige der anderen Männer haben ihn bei den Bäumen zwischen dem Haus und dem Fluss begraben.« Er konnte sich noch sehr genau an den knochigen Jüngling erinnern, der er damals gewesen war, er hatte seinen Kopf über einem Erdhügel gesenkt und ihn mit seinen Tränen getränkt. Knorrige Knie und Ellenbogen, die Mitte eines Rings aus traurig gesenkten Köpfen, so schwarz wie die Erde, die seinen Vater verschluckt hatte, und in ihrer Trauer konnte er fast eine Spur leisen Neids spüren.
    Es war ihm damals normal vorgekommen, wie so viele andere Dinge, die er nun infrage zu stellen begann und in eine neue Perspektive rückte. Sein Wissen über sein adoptiertes Heimatland war begrenzt, aber er wusste genug, um seine gewaltige Größe zu begreifen, die Verschiedenheit der Menschen, Gebräuche und Werte. Wenn hier etwas ungewöhnlich erschien, dann hieß das nicht gleich, dass es unakzeptabel war, es war einfach nur ungewöhnlich, nichts weiter. Das hatte er zumindest gedacht, während er hier aufgewachsen war.
    Aber diesen Blick in den Augen der anderen, wenn er von der Vergangenheit sprach – er konnte deutlich ihren Unglauben erkennen, vielleicht sogar ihren Abscheu, und er spürte, dass möglicherweise nicht alles, was er in Twin Oaks als gegeben hingenommen hatte, in diesem Land auch wirklich akzeptiert wurde.
    Er wusste nur das,

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