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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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und natürlich bei Mitternacht unter einem Vollmond. Hinter dem Tresen standen Stapel mit Bildern katholischer Heiliger, die lebensecht dargestellt waren, um ihre mystische Stärke besser anrufen zu können, und in der Luft hing ein beständiger Weihrauchgeruch.
    Mama Charity ließ ihn jeden Tag den Boden fegen, alles ausrichten, was verrückt worden war, und die Regale auffüllen. Das war nicht viel, aber für diese Aufgaben bekam er ein kleines Bett in einem Hinterzimmer, ein paar Mahlzeiten und einige Dollar.
    Und seinen Seelenfrieden.
    Er konnte hier durch die Gänge gehen und spüren, wie alles um ihn herum sanft an ihm zerrte, als wären die Kerzen und Tränke wohltuende Schwämme, die ihm die Sorgen aus seinem Herzen saugten. Ein Duft des Alters – und der Alterslosigkeit – hing wie die Aura von Seelen in jeder Ecke sowie der geflüsterte Trost uralter Namen.
    Samstagnachmittag stapelte Napolean einige Pappschachteln in einem Lagerraum und hörte Mama Charity zu, die vorn hinter dem Tresen stand.
    »Und jetzt nimm diese Wurzel mit nach Hause«, sagte sie soeben zu einer jungen Frau, »und koch dann sofort etwas Zuckerwasser auf, bis du einen Sirup erhältst. Darin weichst du die Wurzel vierundzwanzig Stunden lang ein, keine Minute weniger, hörst du? Danach wickelst du sie in roten Flanellstoff und versteckst sie morgen in deiner Handtasche, wenn du zu diesem Mann gehst; und wenn du das tust, dann bist du genauso süß wie diese Wurzel.«
    Napolean hörte, wie ihr die junge Frau dankte, dann erklang das vertraute Geräusch der Registrierkasse. Schritte wurden leiser, dann fiel die Tür wieder zu und er wanderte nach vorn.
    Mama Charity lächelte der jungen Frau hinterher. »Weißt du, was ich meiner Meinung nach am häufigsten verkaufe? Hoffnung.«
    Er sah in die Gänge, sie waren alle leer. »Ein ruhiger Tag.«
    »Ja«, erwiderte Mama, »für einen Samstag schon.«
    »Vielleicht haben heute alle genug Hoffnung, was meinen Sie?«
    »Aaaa.« Sie runzelte die Stirn und wedelte dann freundlich aber verneinend mit der Hand. »Davon kann man gar nicht genug haben.«
    Sie sank in einen breiten Schaukelstuhl in der Ecke und schloss die Augen, das Holz knarrte langsam und rhythmisch. In ihrer Gegenwart fühlte er sich so träge wie eine Katze.
    Seine Retterin aus dem French Quarter, Magenta, hatte ihn am letzten Montagmorgen hergebracht. Mama Charity hatte Magenta begrüßt, als sei sie eine exzentrische Tochter, und währenddessen einen kleinen Beutel voll Kerzen verkauft. Klug war sie, oh ja, aber in ihrem wogenden Busen schlug ein mitfühlendes Herz, das war ganz offensichtlich. Nach einem zweiten Blick in Napoleans zerschlagenes Gesicht mit der aufgedunsenen Haut um seine Augen herum hatte sich Mama daran gemacht, einen Breiumschlag aus widerlich stinkenden Zutaten herzustellen, ohne dafür Geld zu verlangen. Sie hatte ihn mit zarter Hand verarztet, und Magenta musste noch nicht einmal fragen, ob sie im Laden für einige Zeit Hilfe gebrauchen könnte.
    Mama Charity war riesig in ihren um den Leib gewickelten Sarongs, eine gewaltige Frau, so groß wie Napolean und mit doppeltem Umfang, und die hellen Schals, die sie um ihr Haar wickelte, ließen sie noch größer erscheinen. Von ihren Beinen hatte er nicht mehr gesehen als den oberen Knöchelansatz, aber der sah so robust aus wie der Zweig einer Eiche. Sie war braun wie eine Pekanuss, besaß eine tiefe, kehlige Stimme, und er konnte ihr Alter nicht einmal schätzen. Sie hätte eine müde Vierzigerin, aber auch eine energische Fünfundsechzigerin sein können.
    »Mama?«, murmelte er.
    »Mm-hmmm.« Sie hatte ihre Augen noch immer geschlossen.
    »Bevor sie mich hierhergebracht hat … als sie mir zum ersten Mal von Ihnen erzählt hat … Magenta sagte, es hat vor mir andere gegeben, die sie aufgenommen und denen Sie ein Zuhause gegeben haben.«
    Mama Charity nickte langsam. »Diese Magenta, das ist eine ehrliche Haut, sie lügt andere nicht an, aber manchmal belügt sie sich selbst.«
    »Warum tun Sie das?«
    Ihre Augen gingen auf. »Zuweilen stellt ihr armen Schlucker fest, dass ich eine dumme Nuss bin, die nicht Nein sagen kann.«
    Und dann zwinkerte sie ihm zu.
    »Haben Sie denn keine Familie?«
    »Ich war dreimal verheiratet. Ich habe sie alle überlebt.« Sie zog die Augenbrauen hoch und kicherte dann leise. »Zwei von ihnen taugten nichts, als ich mich für sie entschied, tat ich das mit einem Teil von mir, dem man solche Dinge wie das Denken lieber nicht

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