Totenstadt
mein Vater hatte sie alle fortgeschickt. Nur die beiden Hartnäckigsten blieben, denen er mit seinem Temperament und seinem Rohrstock nicht beikommen konnte. Also kam die Armee, erschoss sie alle und übernahm die Plantage, damit Luissant Faconde sie jemandem übergeben konnte, der kooperativer war.«
»Was ist mit Ihnen?«, wollte Justin wissen. Er wagte gerade mal ein Flüstern. »Wo waren Sie?«
Granvier biss die Zähne zusammen und sah ihm direkt in die Augen. »Ich war genau wie die anderen Feiglinge weiter in die Berge geflohen.«
Justin sank auf seinem Stuhl zusammen und bereute es, überhaupt gefragt zu haben. Er bereute, dass diese ganze traurige Geschichte überhaupt zur Sprache gekommen war.
»Ich sagte mir, dass ich überleben müsse, damit ich meinen Vater und den Diebstahl unseres Landes eines Tages rächen könnte. Aber das waren Lügen. Ich hatte Angst … und ich wollte nicht sterben.
Ich kam hier und da bei Bauern unter, und nachdem mir ein Bart gewachsen war, verließ ich die Berge und ging nach Port-au-Prince. Ich sah mit meinem Bart völlig anders aus, und Port-au-Prince ist eine Stadt, in der man sich leicht verstecken kann. Die Slums sind riesig, dort leben eine Million Menschen oder mehr. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Furcht überwunden, und mein Zorn war groß, und schon bald kämpfte ich in einer Gruppe von Duvalier-Gegnern. Obwohl ich die Revolution ignorierte, sahen sie mich als eine Art Anführer – wenn schon nicht in der Praxis, dann zumindest im Geiste –, da ich aus einer reichen Familie stammte und in Amerika zur Schule gegangen war … und da ich gelitten hatte. Haitianer wissen Leid zu würdigen. Durch diese Gruppe lernte ich auch Ruben kennen.«
»Warten Sie, Augenblick mal«, warf April ein. »Sie sagen, dass die US-Regierung etwas mit dem Sturz von Jean-Claude Duvalier zu tun hatte?«
»Es war eine rein beratende Funktion«, erwiderte Moreno, als sei dies eine Tatsache. »Seien Sie nicht so naiv. Unsere Regierung hat mit Duvalier zusammengearbeitet, um ihn loszuwerden. Unser Außenministerium hat seinen Flug in einem Frachtflugzeug der US Airforce arrangiert, um ihn so nach Frankreich zu bringen.«
Justin schüttelte den Kopf. Das war erstaunlich, wirklich erstaunlich. Dieser Kerl hatte garantiert für die CIA oder eine ähnliche Organisation, die ebenso schaurig und opportunistisch vorging, gearbeitet. »Sie haben beide Enden gegen die Mitte ausgespielt.«
»Das lässt sich alles glaubhaft widerlegen«, sagte Moreno mit spöttischem Beiklang.
»Als Duvalier fiel«, fuhr Granvier fort, »fiel Port-au-Prince mit ihm ins Chaos. Dort gab es zu viel Zorn, der viel zu lange unterdrückt worden war, als dass das Volk feiern konnte. Sie … wir … ließen unseren Zorn an denen aus, die noch übrig waren. An den Symbolen seiner Macht über uns. Einige behaupten, es seien hundert Macoutes auf den Straßen ermordet worden. Das Volk kastrierte sie oder schlug ihnen die Gliedmaßen ab, da laut der haitianischen Legenden nur auf diesem Weg ein Loup Garou, ein Werwolf, getötet werden konnte, und dann verbrannten sie die abgeschlagenen Stücke.«
Justin erinnerte sich dunkel an die Brutalität, die in den Nachrichten dargestellt worden war, und an die Bilder der toten Macoutes. Allerdings nur an die, die man noch zeigen konnte. Die meisten Fotos waren so grässlich gewesen, dass es keine Zeitung gewagt hatte, sie abzudrucken.
»Wissen Sie, dass, wenn in einer Stadt die Elektrizität ausfällt, viele Menschen, die sonst nie daran denken würden, das Gesetz zu brechen, von dem plötzlich auftretenden Wahnsinn mitgerissen werden?« Granvier klang in diesem Moment sehr philosophisch. »Sie hatten ihr Geld gespart, vielleicht, weil sie sich einen Fernseher kaufen wollten. Aber um sich herum sehen sie nun, wie andere die Schaufenster der Geschäfte einschlagen und sich nehmen, was sie haben wollen. Und so kommen diese guten Leute mit einem gestohlenen Fernseher unter dem Arm nach Hause.« Granvier nickte. »Und so war es auch bei mir.«
»Als sich Duvalier entschloss zu fliehen, kam es sehr plötzlich. Die Menschen hatten seit Tagen mit seiner Flucht gerechnet, aber die ganze Zeit kamen immer neue Radioberichte, nein, er ist an der Macht, nein, er hat nicht aufgegeben und er wird es auch niemals tun. Dann war er auf einmal weg. Viele seiner eigenen Minister waren zweifellos ebenso überrascht davon wie wir, die nur auf diese Neuigkeit gewartet hatten. Amtierende Minister, die
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