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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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das hatte sie bei ihrem Exmann auch oft getan. Und selbst auf dem Höhepunkt ihrer Krise hatte David die Güte besessen, sie wissen zu lassen, dass er an der physischen Seite ihrer Ehe wenig zu beanstanden habe.
    Als Jenny sich im Spiegel betrachtete, entdeckte sie eine gewisse Abwesenheit, eine Stumpfheit im Blick, eine Leblosigkeit in ihren Gesichtszügen. Sie war sich ziemlich sicher, dass diese Veränderung von ihren neuen Medikamenten kam. Das allgemeine Unbehagen, von dem Steve gesprochen hatte, war zwar existentieller Natur, aber an ihrem Spiegelbild erkannte sie, dass es jetzt auch physisch sichtbar war. Die Tabletten waren eine wertvolle Hilfe gewesen, als sie ihren Tiefpunkt erreicht hatte; sie hatten die Melancholie und die Ängste vertrieben, die sich immer, wenn der Geist nicht durch die Arbeit abgelenkt war, mit aller Macht aufgedrängt hatten. Aber sie hatten auch ihren Antrieb und ihre Leidenschaft zerstört.
    Steve hatte recht. Etwas von ihr war gestorben, der Teil, der sich einst voller Freude ins Leben gestürzt hatte.
    Es war Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Die abstumpfenden Medikamente mussten weg. Fort mit Dr. Allens Gift, über die nasse Wiese in den dunklen Strom. Lieber wolltesie wahrhaftig leben und wie McAvoy sein: eine Naturgewalt, ein wütender Sturm oder eine sanfte Brise, je nach Situation.
    Und wenn sie ins Wanken geriet, würden ein Drink oder ein, zwei Tranquilizer sicher nicht schaden.
    Sie öffnete die unterste Schublade ihrer Eichenkommode, in der sie ein paar besondere Dinge aufbewahrte – Seidenunterwäsche, weiße Baumwollhandschuhe mit feinen Perlenknöpfen, eine Seidenstrumpfhose, die sie erst ein einziges Mal getragen hatte –, und suchte nach dem in Folie eingewickelten Paket, das sie Monate zuvor dort deponiert hatte. Damals hatte sie sich geschworen, es nur im alleräußersten Notfall wieder hervorzuholen. Mit einer Nagelschere schnitt sie das schmierige Klebeband auf und nahm das braune Fläschchen heraus. Xanax 2 mg. Sechzig Stück. Ein beruhigendes Rasseln. Sie drehte den Deckel ab und zog den Baumwollpfropfen heraus, um ganz sicher zu gehen.
    Sie hatte ihren Fallschirm. Nun konnte sie springen.
    Kurz vor sieben am Sonntagmorgen wurde sie vom Telefon geweckt. Sie ging nach unten, um den Ton abzustellen, und frühstückte dann in aller Ruhe. Sie hatte nicht die geringste Absicht, heute irgendwelche Anrufe anzunehmen. Bevor sie selbst keine Antworten hatte, würde sie auch niemand anderem etwas sagen. Zwei Tassen Kaffee halfen gegen die Trägheit. Ohne Dr. Allens Tabletten fühlte sie sich anfälliger. Die Angst lauerte als kleiner, harter Klumpen zwischen Kehle und Zwerchfell, aber sie spürte auch eine ungewohnte Energie. Eine Vorahnung von Aufregung und Gefühlen, die lange Zeit unterdrückt worden waren. Der Tag war jung und voller Möglichkeiten.
    Kurz nach neun fuhr sie vor dem Haus der Crosbys in Cheltenham vor. Es stand in einer Reihe von gleichartigenHäusern im Regency-Stil, die sich nur in der Gestaltung ihrer schmiedeeisernen Vordächer und Balkone voneinander unterschieden. Die stuckverzierten Straßenzüge hatte man mit dem ersten Geld, das aus den Kolonien in die Hände der Kaufleute gelangt war, errichtet und damit eine idealisierte Vision dessen geschaffen, was als englisch und zivilisiert galt. Selbst an einem trüben Februarmorgen schienen die Gebäude zu leuchten.
    Mrs. Crosby kam an die Tür. Ihre Haare waren leicht zerzaust, aber immerhin hatte sie seit Jennys Anruf vor einer halben Stunde Zeit gehabt, sich anzuziehen und, dem verbrannten Geruch nach zu urteilen, sich einen Toast zu machen. Sie führte Jenny in ein elegantes, schnörkelloses Wohnzimmer, in dem moderne Sofas mit einem alten Kronleuchter kombiniert worden waren. Die Gemälde waren abstrakt, dem großen, reich verzierten Spiegel über dem weißen Marmorkamin sah man sein Alter an. Über drei Meter hohe Fenster gingen auf einen italienischen Garten hinaus.
    »Sie haben es herrlich hier«, sagte Jenny. »So hell.«
    Mrs. Crosby lächelte traurig und sah zur Tür hinüber, durch die soeben ihr Ehemann eintrat, das Haar noch nass vom Duschen. Die Verärgerung, an einem Sonntagmorgen so früh aufgescheucht worden zu sein, war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
    »Sie haben eine Leiche gefunden, oder?«, sagte er und setzte sich neben seine Frau.
    »Nein. Keine Leiche. Ich habe keinen Hinweis darauf, dass Ihre Tochter tot ist.«
    Der Mann und seine Frau wechselten einen

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