Totenstätte
Konkurrenz gibt.«
»War sie gut im Studium?«
»Nicht wirklich«, sagte Mrs. Crosby. »Ihre Noten waren eher mittelmäßig. Sie kann von Glück sagen, dass sie überhaupt zum Aufbaustudium zugelassen wurde. Eigentlich hatte sie immer davon gesprochen, dass sie erst einmal ein Jahr herumreisen wolle.«
»Wahrscheinlich hat ihr Aussehen ihr geholfen«, sagte ihr Ehemann. »Männer würden alles für sie tun.«
Jenny betrachtete die geschmackvollen Schwarz-Weiß-Fotos, die auf einem glänzenden Walnussholzsekretär aufgestellt waren. Als Anna Rose auf die zwanzig zuging, hatte sie schulterlanges blondes Haar gehabt. Auf den Fotos lächelte sie auf eine Weise, bei der Ärger vorprogrammiert zu sein schien. Sie wirkte natürlicher, weniger stilvoll als ihre Adoptiveltern.
»Wie hat sie den Job überhaupt bekommen?«, fragte Jenny. »Es klingt fast so, als würde er nicht wirklich zu ihr passen.«
Mr. Crosby zuckte mit den Achseln. Offenbar hatte er sich an die Überraschungen gewöhnt, mit denen seine Tochter gelegentlich aufwartete. »Sie kam sehr gut mit ihrer Tutorin aus, mit Dr. Levin«, sagte Mrs. Crosby. »Ich hatte immer den Eindruck, sie würde Anna Rose in diese Richtung drängen. Vermutlich war sie es auch, die die entscheidenden Strippen gezogen hat, aber Anna Rose würde das nie zugeben.«
»Sie war sehr selbstständig?«
»Oh ja«, sagte Mr. Crosby. »Und sehr eigensinnig. Sie konnte noch so sehr im Unrecht sein, sie hatte trotzdem immer recht.« Der Tonfall ließ darauf schließen, dass er schon eine genaue Vorstellung davon hatte, was passiert sein musste: Seine lebhafte, naive Tochter, attraktiver, als gut für sie war, hatte sich mit irgendeinem verdammten Ausländer eingelassen. Wenn sie nicht schon tot war, gab es sicher nichts mehr, womit man ihr noch helfen konnte.
»Bedeutet das, dass jetzt wegen einer Strafsache gegen sie ermittelt wird?«, fragte Mrs. Crosby.
»Natürlich«, fuhr sie ihr Ehemann an, »das ist doch glasklar. Sie steckt bis zum Hals in irgendetwas drin.«
»Das weißt du doch gar nicht, Alan«, protestierte sie verletzt.
»Du kennst sie doch, sie ist so leicht zu beeindrucken. Schon als Kind war sie so.« Er wandte sich an Jenny. »Ichmöchte ehrlich zu Ihnen sein, Mrs. Cooper. Wir waren hocherfreut, dass Anna Rose ihre Teenagerjahre überhaupt lebend überstanden hat. Von zwei Schulen geflogen, Gott weiß wie viele unpassende Jungs – ständig hatte sie irgendwelchen Ärger.«
Mrs. Crosby brach in Tränen aus. »Das ist nicht fair.«
»Vorläufig sehe ich keinerlei Veranlassung, mit der Polizei zu reden«, sagte Jenny. »Ich würde mich aber gerne in der Wohnung Ihrer Tochter umschauen und auch mit Mike Stevens sprechen.«
Jenny verließ das Haus der Crosbys mit dem Schlüssel zu Anna Roses Wohnung und der Handynummer von Mike Stevens. Sie rief ihn gleich vom Auto aus an, weil sie sich gerne später am Morgen mit ihm getroffen hätte, doch er war auf einer einwöchigen Dienstreise zur Wiederaufbereitungsanlage bei Sellarsfield und wohnte für die Zeit in einem Hotel im Lake District. Es würde jetzt auch nichts mehr nützen, zu Hause zu bleiben, so Mike Stevens. Anna Roses Eltern hatten sich mit sämtlichen Freunden und Bekannten ihrer Tochter, die ihnen namentlich bekannt waren, in Verbindung gesetzt. Auch er war ratlos, was man überhaupt noch tun konnte.
»Meine Frage klingt sicher etwas merkwürdig, Mr. Stevens«, sagte Jenny, »aber hatte Anna Rose Zugang zu radioaktivem Material, zum Beispiel zu Cäsium 137?«
Am anderen Ende trat Stille ein, die sie als verwundertes Schweigen interpretierte. Irgendwann fand Mike Stevens die Sprache wieder. »Warum wollen Sie das wissen?«
»In einem meiner Fälle sind Spuren davon aufgetaucht.«
»Einem Todesfall?«
»Keine Sorge«, sagte Jenny. »Außer dem Cäsium gibt es keine Verbindung zu Anna Rose. Ich möchte nur wissen,ob die Substanz irgendwie aus Ihrem Werk hinausgelangen könnte.«
»Um Himmels willen, nein. Haben Sie eine Ahnung von der Nuklearindustrie? Da sind nur Roboter im Einsatz.«
»Sie würden also sagen, dass es Anna Rose unmöglich gewesen wäre, beispielsweise an Cäsium 137 heranzukommen?«
»So unmöglich wie für Sie. Worum geht es denn genau? Was soll sie getan haben?«
»Nichts. Vielleicht handelt es sich auch um zwei voneinander unabhängige Ereignisse. Wissen Sie etwas über einen indopakistanischen Freund von Anna Rose namens Salim?«
»Nie gehört.«
»Ihre Mutter hat ihn letzten
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