Totenstätte
Oktober ihre Wohnung verlassen sehen.«
»Woher haben Sie das alles nur? Anna Rose hat keinen Freund namens Salim. Letzten Oktober kannten wir uns schon.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie beunruhigt habe, Mr. Stevens. Mr. oder Mrs. Crosby wird es Ihnen erklären. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Moment mal …«
Sie beendete die Verbindung und wählte Alisons Nummer. Es klingelte sieben Mal, bevor ihre Assistentin sich mit einem verhaltenen Hallo meldete.
»Ich dachte schon, Sie seien in der Kirche«, sagte Jenny.
Alison ignorierte die Bemerkung. »Und Sie leben also auch noch, Mrs. Cooper. Halb Bristol möchte Sie sprechen. Alle denken, Sie wüssten etwas.«
»Noch nicht, aber ich arbeite daran. Ist es schon in den Nachrichten? Ich habe nichts gehört.«
»Kein Mucks. Es muss eine Art Sperre gegeben haben.«
»Ich weiß nicht, ob ich das beängstigend oder beruhigend finden soll. Aber jetzt brauche ich erst einmal ein Dosimeter.«
»Ein was?«
»Die Nummer von Andy Kerr würde es auch tun.«
Den Geräuschen nach zu urteilen, erwischte sie Andy in einer Art Sportstudio. Es lief schlechte Popmusik, und im Hintergrund war das metallische Klappern von Gewichten zu hören. Offenbar hatte er keine Freundin, die ihn sonntagmorgens auf Trab hielt. Das Dosimeter stecke immer noch in seinem Kittel, erklärte er, aber das gesamte Gebäude sei für die Zeit der Dekontamination versiegelt. Vor Wochenmitte würde er wohl kaum Zugang dazu haben. Er würde Sonia Cane ja gerne anrufen, aber ihm sei zu Ohren gekommen, dass sie eine Beschwerde über ihn schreibe, weil er nicht sofort nach Entdeckung der Verstrahlung die Gesundheitsbehörden alarmiert habe.
»Wovor hat sie solche Angst?«, fragte Jenny.
»Wovor ich auch Angst habe – gefeuert zu werden. Mir wurde nahegelegt, mit niemandem darüber zu sprechen, nicht einmal mit Ihnen.«
»Ich werde es niemandem verraten. Aber wo bekomme ich nun ein Dosimeter her?«
»Heute?«
»Wär nicht schlecht.«
Andy seufzte. »Ich werde ein paar Anrufe machen.«
Jenny bekam das Dosimeter vom Radiologie-Assistenten, der am Vale Sonntagsschicht hatte und von einer ganzen Reihe von Notfällen gestresst war. Er fragte nichts, und sie erklärte nichts. In seinem Job war das Gerät Teil der Grundausstattung, wenn auch längst nicht so raffiniert wie das von Sonia. Es bestand aus einem kreditkartengroßen Gehäuse mit einem Stück Fotofilm darin und besaß eine Farbskala.War es Strahlung ausgesetzt, nahm der Film unterschiedlich abgestufte Grüntöne an.
Die Fahrt zu Anna Roses Wohnung dauerte keine Viertelstunde. Sie lag in einer Neubausiedlung am nordwestlichen Stadtrand, nicht weit entfernt von der Parkway Station. Die von Gewerbegebieten, Industrieanlagen und Zufahrtsstraßen geprägte Gegend war nicht schön, lag aber in der Nähe der Autobahn. Bis nach Maybury waren es weniger als zwölf Meilen. Das dreistöckige Wohnhaus hatte man in eine Ecke der Siedlung gequetscht. Jeder Zentimeter der schmalen Straße war mit Autos zugeparkt, sodass Jenny sich gezwungen sah, einen Wendekreis zu blockieren.
An dem Schlüsselring, den die Crosbys ihr gegeben hatten, befanden sich zwei Schlüssel. Der erste war für die Haus-, der zweite für die Wohnungstür. Jenny sah auf das Dosimeter. Es blieb im hellsten Grünbereich.
Sie betrat eine auffällig ordentliche Einzimmerwohnung. Öffnete man die Wohnungstür, stand man direkt in einer geräumigen Küche, die mit wenigen schlichten und modernen Möbeln eingerichtet war. Aus einem Fenster sah man auf ein eingezäuntes, verwildertes Gelände, das man einst wohl für ein nie realisiertes Bauvorhaben vorgesehen hatte. Das Hellgrün des Dosimeters blieb unverändert. Jenny ging durch den Raum, betrachtete ein sich unter Lehrbüchern biegendes Regalbrett, öffnete Schubladen, sah sich im Bad um und durchsuchte das winzige Schlafzimmer. Sie hielt das Dosimeter in jede Ecke, aber nichts passierte.
Sie war gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Erschöpft ließ sie sich auf einem der beiden Stühle am Kiefernholztischchen in der Küche nieder und machte eine Bestandsaufnahme. Am interessantesten war das, was sie nicht gefunden hatte. Sie hatte weder Koffer noch Rucksack entdeckt, keinen Computer, keinen Fotoapparat und kein Handy.Kein Portemonnaie, keine Zahnbürste. Die Bügel im Kleiderschrank waren leer, und in der Kommode lag nur wenig Wäsche und ein paar Strümpfe. An der Eingangstür gab es keine Spuren gewaltsamen Eindringens. Im Poststapel
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