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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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Die Straßen waren auf unheimliche Weise ruhig, als die Sonne hinter den Hügeln versank und sich für einen kurzen Moment Licht von fast überirdischer Klarheit über das Wye Valley legte. Einen Augenblick lang schien das Leben in einem Schwebezustand zu verharren. Jenny war nichts weiter als die Betrachterin der verwirrenden Bilder, aus denen sich ihre Gegenwart zusammensetzte: ein Sohn, der von ihrer Schwäche enttäuscht war. Ein beunruhigender, verwirrender Mann, zu dem sie sich zutiefst hingezogen fühlte. Ein Fall, der, sosehr sie es auch zu verdrängen suchte, ihre ureigensten Ängste heraufbeschwor. Dann die zunehmend bizarren Verwicklungen in der Stadt, die nur eine Flussbreite hinter ihr lag – eine Spur radioaktiver Verstrahlung, die zum nackten Körper einer Frau führte, deren Hilferuf sie ignoriert hatte. Sie könnte sich schuldig fühlen, könnte entsetzt darüber sein, dass sie McAvoys Anruf demjenigen Mrs. Jamals vorgezogen hatte, aber in diesem Moment der Stille spürte Jenny eine fast egoistische Erleichterung. Es war, als wäre das, was bislang bedrohlich im Verborgenen gelauert hatte, für ein paar Sekunden sichtbar geworden. Mrs. Jamals Mörder – Jenny war zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei dem Mann mit der Baseballkappe genau um diesen handelte – war derselbe Dämon, der auch in der Nacht von Nazims und Rafis Verschwinden aufgetaucht war. Vor acht Jahren hatte er nur Kratzspuren am Türrahmen hinterlassen, dieses Mal hatte er ein Andenken aus der Hölle mitgebracht.
    Das Böse besaß nun eine Gestalt, wenn nicht gar ein Gesicht.
    Es blieb nicht die Zeit, ihre Theorien zu überdenken oder auszuformulieren. Den gesamten Nachmittag über klingelte das Telefon. Andy Kerr, das Bestattungsunternehmen, verschiedene Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden, Kriminalinspektor Pironi und sogar Gillian Golder waren irgendwie an ihre Privatnummer gekommen, die doch angeblich nicht im Telefonverzeichnis stand. Alle wollten Informationen, über die Jenny nicht verfügte, und niemand glaubte ihr ihre Unwissenheit. Pironi und Golder klangen fast verzweifelt inihrem Beharren, irgendetwas über die Quelle der Verstrahlung zu erfahren. Beide waren überzeugt, dass Jenny wichtige Informationen unterschlug. Sie erzählte ihnen von Mrs. Aldis und dem Mann mit der Baseballkappe und redete sich ein, dass sie damit ihrer Pflicht Genüge getan hatte. Madog oder Tathum erwähnte sie nicht. Beide gehörten der Vergangenheit an, und die war immer noch ihr ureigenstes Terrain.
    Zwischen den Gesprächen plante Jenny an ihrem Schreibtisch ihre nächsten Schritte. Die Grenzen ihres Berufs hatte sie längst überschritten, indem sie sich wie eine Polizistin verhalten hatte, aber instinktiv ahnte sie, dass es noch weitere Fragen gab, die sich nicht allein durch die Befragung von Zeugen im Gerichtssaal klären lassen würden. Die gestohlene Jane Doe hatte an der Schilddrüse einen Tumor gehabt, der möglicherweise auf eine niedrige Strahlenbelastung zurückzuführen war. Die vermisste Anna Rose hatte in einem Atomkraftwerk gearbeitet. Nazim Jamal war Physikstudent gewesen. Es war mehr als nur Wunschdenken: Zwischen all dem musste es eine Verbindung geben.
    Das Telefon unterbrach ihre Gedanken, wie es ihr vorkam, zum hundertsten Mal. Jenny meldete sich mit einem müden Hallo.
    »Dir scheint’s ja gut zu gehen«, sagte Steve. »Schwer beschäftigt?«
    Jennys Stimmung hob sich. »Hast du einen besseren Vorschlag?«
    »Ich würde gerne reden«, sagte Steve.
    Im Apple Tree war es für einen Samstag ziemlich ruhig. Steve saß als einziger Gast neben dem eisernen Kohlebecken auf der mit Steinplatten ausgelegten Veranda. Das Prasseln des Feuers und das Rauschen des Baches, der ein Stück weiter in den Wye floss, waren die einzigen Geräusche in der klammen, kühlen Nacht.
    »Hältst du es hier draußen aus?«, fragte Steve, als sie die unebenen Stufen heraufkam.
    »Mir gefällt’s«, sagte Jenny und setzte sich neben ihn auf eine der drei rustikalen Bänke, die um das Feuer herumstanden. Es strahlte eine angenehme Wärme aus, aber sie war dankbar für ihren dicken Wollpullover und die imprägnierte Jacke, die sie wie eine Bäuerin aussehen ließen.
    Steve hielt seine Selbstgedrehte an eine Flamme und zog. »Ich habe dir eine Virgin Mary mitgebracht.« Er reichte ihr ein Glas.
    »Danke.« Sie nahm einen Schluck von dem alkoholfreien Drink. »Himmel, ist das langweilig, tugendhaft zu sein.« Sie streckte die Hand nach seiner

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