Totenstätte
Ross, dass alle zehn Minuten eine Verrückte angerufen habe. Der Anrufbeantworter war vollgesprochen. Mit wachsender Hysterie behauptete Mrs. Jamal immer wieder dasselbe: dass sie beobachtet werde, dass man ihr auf der Straße folge, dass ihre Post abgefangen werde, dass man in ihrer Wohnung heimlich Kameras installiert habe. »Ich bin eine Gefangene in meinen eigenen vier Wänden«, diesen Satz wiederholte sie gleich mehrfach. Beim letzten Anruf wurde sie so von Tränen überwältigt, dass Jenny kaum noch etwas verstand.
Der Kontakt mit Angehörigen von Toten oder Vermissten sollte sich eigentlich auf eine förmliche Ebene beschränken. Engere Beziehungen mit ihnen zu knüpfen führte unausweichlich zu Schwierigkeiten. Angehörige verstanden selten, dass der Coroner ausschließlich im öffentlichen Interesse handelte. Die freundlichen Umgangsformen dienten vor allem dazu, die Prozedur für die Hinterbliebenen so schmerzlos wie möglich zu gestalten. Das korrekte Prozedere würde verlangen, Mrs. Jamal einen Brief zu schreiben und ihr darin höflich zu erklären, dass ihr Verhalten unangemessen war. Würde Jenny sie hingegen zurückrufen, weckte sie damit vermutlich Erwartungen, die sie niemals erfüllen konnte. Aber was für ein Mensch musste man sein, um derart verzweifelte Hilferufe zu ignorieren?
Mrs. Jamal nahm beim ersten Klingeln ab. »Ja? Wer ist da?« Sie klang angespannt.
»Mrs. Jamal, hier ist Mrs. Cooper, der …«
»Dem Himmel sei Dank«, unterbrach sie Mrs. Jamal. »Ich war mir sicher, dass ich Ihnen vertrauen kann. Sie wurden mir von Gott gesandt, das weiß ich. Niemand sonst versteht mich. Niemand.« Sie redete weiter, ohne Luft zu holen. »Diese Leute verfolgen mich Tag und Nacht, Mrs. Cooper. Sie lassen mich nicht aus den Augen. Sie beobachten meine Wohnung, sie folgen mir auf der Straße. Heute Nacht waren sie in meiner Wohnung, wirklich. Sie haben ein paar Sachen umgestellt und alles verwanzt, ich bin mir ganz sicher. Auch jetzt hören sie uns zu. Ich muss verschwinden, ich muss …«
»Einen Moment bitte. Beruhigen Sie sich doch. Lassen Sie mich auch mal zu Wort kommen.«
»Ja, natürlich, aber Sie müssen mir glauben …«
»Jetzt hören Sie mir zu.«
Endlich war Mrs. Jamal still.
»Bleiben Sie bitte ruhig. Es bringt niemandem etwas, wenn Sie sich so aufregen.«
»Nein. Sie haben recht. Ich bin Ihnen so dankbar …«
»Wer, glauben Sie, beobachtet Sie?«
»Ich weiß es nicht. Es sind Männer. Weiße Männer. Aber ich habe keine Ahnung, was sie von mir wollen. Ich weiß überhaupt nichts. Ich bin nur eine Mutter …« Sie zog die Nase hoch, weil sie kurz davor war, wieder zu weinen.
»Erinnern Sie sich an unser letztes Telefonat? Sie sind zum Fenster gegangen, aber vor Ihrer Wohnung war niemand.«
»Sie belauschen mich. Sie wissen, wann sie verschwinden müssen. Ich muss irgendwohin, wo sie mich nicht finden können.«
»Mrs. Jamal, Sie sind aufgeregt. Sie machen etwas durch, das zum Schlimmsten gehört, das man sich vorstellen kann.Sie haben Ihren Sohn verloren und möchten unbedingt erfahren, was mit ihm passiert ist. Aber hören Sie mir bitte zu: Sie wissen nicht, was mit ihm passiert ist, deshalb wollen Sie, dass ich eine Untersuchung einleite. Niemand hat einen Grund, Sie zu verfolgen oder Ihre Gespräche abzuhören. Es ist bestimmt nicht leicht zu verstehen, aber ich vermute, dass Ihnen Ihr Verstand einen Streich spielt.«
»Nein«, sagte Mrs. Jamal, aber es klang nicht sehr überzeugt.
»Ich möchte Sie um Folgendes bitten. Gehen Sie zu Ihrem Arzt und erklären Sie ihm, wie Sie sich fühlen. Ohne professionelle Hilfe wird es Ihnen nicht besser gehen, und ich möchte, dass Sie ruhig genug sind, um eine Untersuchung durchzustehen, wenn es denn dazu kommen sollte.«
»Ich bin nicht krank, Mrs. Cooper. Ich weiß, was ich sehe. Ich kann nicht hierbleiben. Sie kommen nachts und …«
»Vertrauen Sie mir. Bitte. Ich habe genug Erfahrungen mit Menschen, um zu verstehen, wie Sie sich fühlen.« Sie machte eine Pause und spürte, dass sie jetzt die nötige Aufmerksamkeit hatte. Endlich hörte Mrs. Jamal zu. »Sie fühlen sich sehr allein, sehr schutzlos und sehr unsicher«, fuhr sie fort. »Aber sobald Sie Fortschritte erkennen, werden auch diese Gefühle vorübergehen. Glauben Sie mir.«
»Aber ich habe Angst, Mrs. Cooper.«
»Das ist ganz normal. Sie haben länger als sieben Jahre mit einer unbeantworteten Frage gelebt und haben nun Angst davor, was die nächsten Wochen bringen
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