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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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werden.«
    Mrs. Jamal schluchzte. »Ich weiß, dass er mich nicht verlassen hätte. Er war ein guter Sohn und hat mich immer besucht, auch als sein Vater ihn davon abhalten wollte. Nazim hätte mich nie verlassen.«
    »Ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag«, sagte Jenny. »Ich erledige in den nächsten Wochen meine Arbeit, so gutich nur kann. Und im Gegenzug lassen Sie sich helfen, damit Sie die nächste Zeit irgendwie überstehen. Können wir uns darauf einigen?«
    »Ja«, antwortete Mrs. Jamal schwach. »Danke.«
    Ross war den ganzen Abend in seinem Zimmer, skypte mit seinen Freunden, hörte Musik und kam nicht im Traum auf die Idee, etwas Zeit mit seiner Mutter zu verbringen. Um sich gegen das Gefühl der Zurückweisung zu schützen, verkroch sich Jenny in ihrem Arbeitszimmer und nahm den ständig wachsenden Berg an unerledigtem Papierkram in Angriff. Leichen waren ein zuverlässiger Indikator für gesellschaftliche Trends. In den letzten Wochen waren zwei Mädchen unter fünfundzwanzig an alkoholbedingtem Leberversagen gestorben, ein drittes war in der Toilette einer Disco mit einer Alkoholvergiftung zusammengebrochen. Zwei depressive fünfzehnjährige Jungen hatten sich umgebracht, nachdem sie sich in einem Chatroom kennengelernt hatten. Ein fünfunddreißigjähriger Familienvater war von einer Autobahnbrücke gesprungen, weil seine Bank die Hypothekenforderung geltend gemacht hatte. Und auch wenn die Jungen unglücklich wirkten, waren die Alten kaum besser dran. Vor ihr lag das Foto eines achtzigjährigen Witwers, der das Schlafzimmer seiner kleinen Wohnung zu einer Gaskammer umfunktioniert hatte. In der Nachricht, die er hinterlassen hatte, stand, dass es eine unerträgliche Last geworden sei, das Leben zu meistern.
    Niedergeschlagen steckte Jenny die Papiere in ihre Aktentasche und griff zum Telefon, um Steve anzurufen. Vielleicht würde er sich freuen, ein, zwei Stunden aus seiner zugigen Scheune herauszukommen. Doch niemand meldete sich, nicht einmal der Anrufbeantworter, auf dem sie eine Nachricht hätte hinterlassen können. Ein Handy besaß Stevenicht. Sie nahm an, dass er mit seinem Hund spazieren war, der unter der Woche nun immer in einem öffentlichen Zwinger bleiben musste. Nachdem sie es später erneut versuchte und dann bis Mitternacht noch etliche weitere Male, fand sie sich endlich damit ab, dass er nicht daheim war. Es gab viele Möglichkeiten, warum sie ihn spät an einem Mittwochabend nicht erreichen konnte. Wahrscheinlich war er mit Freunden unterwegs oder bei einem Kollegen in Bristol geblieben. Eine andere Frau steckte mit Sicherheit nicht dahinter. So unverbindlich ihre Beziehung auch sein mochte, sie hatte mittlerweile doch eine zu große Bedeutung, als dass Steve sie durch die Verlockungen einer sporadischen Affäre gefährden würde. Und Jenny hatte ihn nie abgewiesen, wenn sie das Gefühl gehabt hatte, er wolle die Nacht mit ihr verbringen.
    Zu unruhig, um Tagebuch zu schreiben, nahm sie zwei Tabletten, legte sich hin und lauschte dem Eisregen, der gegen das Fenster schlug. Die Bleiglasscheiben klapperten in ihren verzogenen Rahmen, und unter dem Dach jammerte der Wind und beschwor Geister und dunkle Mächte herauf. Eine Zeit lang dämmerte Jenny an der Bewusstseinsschwelle vor sich hin. Sie vermeinte noch zu spüren, dass sich unter ihr der Boden bewegte, die Erde ächzte und irgendeine dramatische Veränderung vor sich ging, dann fiel sie in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf.
    Innerlich aufgewühlt klammerte sie sich an den Anschein von Normalität ihrer morgendlichen Rituale. Sie machte für Ross das Frühstück und plauderte während der Autofahrt so lange mit ihm, bis sie ihn an seinem College hinausließ. Erst als er sich unter die jungen Leute mischte, gab sie dem Gefühl der Panik nach. Es brodelte in ihr, seit sie unter der Dusche gestanden und das Wasser auf ihrer Haut gespürt hatte. Dr. Allen hatte sie davon überzeugt, dass die schlimmsten Symptome ihrer psychischen Störung der Vergangenheit angehörten. Er hatte Zeichnungen gemacht, um zu illustrieren, wie das Gehirn unter dem Einfluss der Medikamente umlernte und die Fight-or-Flight-Reaktion, die tief in der Amygdala ausgelöst wurde, auf ein normales Maß zurechtstutzte. Er hatte ihr versprochen , dass sie niemals wieder dorthin zurückkehren musste, wo sie einmal gewesen war. Trotzdem fühlte sich ihr Herz jetzt, sechs Monate später und im morgendlichen Berufsverkehr eingepfercht, fast doppelt so groß an, und

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