Totenstätte
ihr Zwerchfell wurde zusammengepresst.
Jenny wehrte sich gegen die Symptome, schrie und fluchte. Die erstaunten Blicke anderer Autofahrer trafen sie. Wie konnte die Krankheit es wagen, ihr schon wieder das Leben zu vermiesen? Sie kämpfte sich durch jede Panikattacke hindurch und weigerte sich, an den Straßenrand zu fahren und sich zu ergeben. Schließlich sank ihr Adrenalinspiegel und ließ sie müde, schwer und ausgehöhlt zurück. An einer Ampel hielt sie an und klappte den Schminkspiegel herunter. Ihre Pupillen waren geweitet und starr, ihr Gesicht war blass: klassische Symptome akuter Angstzustände. Die Wut verwandelte sich in Verzweiflung. Warum war sie an einem ganz gewöhnlichen Morgen, an dem nichts vorgefallen war, in eine solche Panik geraten? Was arbeitete in ihr? Und warum machte es sich gerade jetzt wieder bemerkbar, da sie sich stärker denn je unter Kontrolle haben musste?
Ihr Handy klingelte, als sie gegenüber von ihrem Büro in eine Lücke einparkte. Während sie das Telefon aus der Tasche angelte, touchierte sie den Wagen hinter sich. Plastik splitterte. Jenny tat, als hätte sie nichts gehört.
Eine aufgeregte Stimme sagte: »Mrs. Cooper? Hier ist Andy Kerr vom Vale. Haben Sie Anweisung gegeben, die Jane Doe abzuholen?«
»Entschuldigung?«
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht ihren Abtransport veranlasst. Sie ist weg.«
»Wie bitte?«
»Gestern Abend war sie noch da. Jetzt ist sie weg.«
»Meinen Sie das ernst? Wer hatte Dienst?«
»Heute Nacht war nur ein Angestellter hier. Wenn jemand es geschafft hätte einzubrechen, dann …«
Sie hörte die Sorge in seiner Stimme und konnte sich schon die Schlagzeile vorstellen: »Unidentifizierte Tote aus Leichenhalle gestohlen.«
»Sie ist nicht mehr hier, Mrs. Cooper. Sie waren für sie verantwortlich. Was sollen wir tun?«
»Ich komme sofort.«
Dr. Kerr sah noch schlimmer aus, als sie sich fühlte. Sie folgte ihm den Flur entlang und starrte auf die leere Schublade. Er erklärte ihr, dass der Mitarbeiter, der Nachtwache gehabt hatte, eher eine Art Aushilfe war, ein Philippiner, der tagsüber als Reinigungskraft arbeitete und manchmal länger blieb. Möglicherweise hatte er die gesamte Nacht im Mitarbeiterraum geschlafen, der gleich um die Ecke lag, nur zehn Meter von dem Kühlraum entfernt. Die Einbrecher könnten entweder durch die Tür, die auf den Parkplatz hinausging, gekommen sein oder durch den Tunnel, der vom Untergeschoss des Krankenhauses hierherführte. Es gab keine Spuren für eine gewaltsame Öffnung der Türen, aber die Schlösser waren auch nicht besonders kompliziert.
»Könnte es nicht sein, dass sie verwechselt wurde?«, fragte Jenny. »Es ist schon vorgekommen, dass Bestattungsfirmen die falsche Leiche mitgenommen haben.«
Andy Kerr schüttelte den Kopf. »Wir haben im Moment sechsunddreißig Leichen hier, und über jede einzelne können wir Rechenschaft ablegen.«
Im Geiste ging Jenny sämtliche Möglichkeiten durch, kam aber immer wieder zu der einen logischen Schlussfolgerung: Die Jane Doe war gestohlen worden. Aber warum sollte irgendjemand so etwas tun?
Andy wirkte nervös. »Noch etwas. Sie haben die junge Frau erwähnt, die in Maybury gearbeitet hat, erinnern Sie sich?«
»Ja?«
»An wirklich professionelle Geräte bin ich nicht herangekommen, aber ich habe mir aus der Radiologie ein einfaches Dosimeter ausgeborgt. Die Leiche hat schwache Beta- und Gammastrahlen ausgesendet. Um was für ein Isotop es sich gehandelt hat, kann ich nicht sagen, aber sie muss auf jeden Fall zu irgendeinem Zeitpunkt einer intensiven Strahlenbelastung ausgesetzt gewesen sein.«
»Woran denken Sie? An einen nuklearen Zwischenfall?«
»Nein, nichts Derartiges. Aber die Ausprägung war mehr als doppelt so stark als die, die man bei jemandem, der in einem Atomkraftwerk arbeitet, erwarten würde. In Osteuropa wäre das nichts Ungewöhnliches.«
»War die Strahlung hinreichend stark, um einen Tumor an der Schilddrüse auszulösen?«
»Möglich. Die Belastung könnte ja auch schon eine Weile zurückliegen. Vielleicht sogar ein paar Jahre.«
»Ich denke, es ist an der Zeit, die Polizei zu rufen«
Der Kriminalmeister hieß Sean Murphy. Er war nicht älter als dreiunddreißig, trug einen verknitterten Anzug und hatte den obersten Hemdknopf offen gelassen. Sein Haar war ungekämmt, und ein schütterer Bart sollte die ersten Anzeichen eines Doppelkinns verbergen. Als er sich zur Seite drehte, sah Jenny, dass oben am Ohr ein winziger
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