Totenstätte
gleichzeitig. »Sie wären erstaunt«, sagte Rhys. »Nur weil wir Überwachungskameras haben, heißt das nicht zwangsläufig, dass diese gute Bilder liefern oder es keine Idioten gibt, die sie schon wieder überspielt haben.«
»Meines Wissens nimmt die Armee routinemäßig Proben von toten Aufständischen im Irak und in Afghanistan. Wurde je ein Versuch unternommen, sie auf diesem Wege zu finden?«
»Die Jungen sind im Computersystem. Wäre etwas aufgetaucht, hätte man es uns mitgeteilt.«
Jenny seufzte. Irgendetwas stimmte an der Sache nicht. »Noch eine Frage. Warum hat die Polizei nur so kurz ermittelt? Mir ist zu Ohren gekommen, dass ein paar Beamte das Gefühl hatten, man habe zu früh aufgegeben.«
Gillian Golders Antwort kam ohne jedes Zögern. »Da sie so gänzlich spurlos verschwunden waren, ließ sich nicht ausschließen, dass sie untergetaucht waren. Es wurde also beschlossen, die Sache nicht an die große Glocke zu hängen und die Geheimdienste einzuschalten. Man wollte nicht die Spur zu etwas Größerem riskieren, indem man übereilt reagierte und wertvolle Hinweise übersah.«
Jenny nickte, aber falls die Unterredung ihr Misstrauen hatte vertreiben sollen, war der Versuch misslungen. Golder und Rhys, so jung sie auch sein mochten, verstanden ihr Handwerk. Sie stellten ihr die Möglichkeit einer Untersuchung in Aussicht, ließen aber gleichzeitig durchblicken, dass Jenny dann nach ihren Regeln zu spielen hatte. Den Geheimdiensten sollten nicht zu viele Fragen gestellt werden, und um gar keinen Preis durfte die muslimische Gemeinde aufgebracht werden.
Nachdem Jenny über ihr Dilemma nachgedacht hatte, entschied sie sich für die einzige Reaktion, die sie mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. »Ich habe wie Sie nicht das geringste Interesse daran, dass die Untersuchung in einen Medienzirkus ausartet«, sagte sie. »Und ich möchte auch keine Plattform für wilde, unbegründete Spekulationen zur Verfügung stellen. Da Sie aber den Weg auf sich genommen haben, um mit mir zu reden, sollten Sie wissen, dass ich keine Einmischung in meine Untersuchung dulden werde. Wenn ihr zugestimmt wird, wird sie ordnungsgemäß, gründlich, unabhängig und in Übereinstimmung mit dem Gesetz ablaufen.«
»Etwas anderes hätten wir von Ihnen auch nicht erwartet«, sagte Gillian Golder. »Wirklich, Mrs. Cooper, wir sind genauso interessiert daran wie Sie herauszufinden, was passiert ist.«
Jenny wusste nicht, ob sie dieses kleine Scharmützel gewonnen oder verloren hatte. Hatte sie alles dafür getan, dass es nie zu einer Untersuchung kommen würde, oder sich durch ihre entwaffnende Ehrlichkeit als hinreichend naiv und damit vertrauenswürdig erwiesen? Ebenso wenig war ihr klar, ob die beiden sie schamlos belogen hatten oder ob die Behauptung, dass die Geheimdienste keine Ahnung hatten, was mit Rafi und Nazim geschehen war, immerhin ein Körnchen Wahrheit enthielt. Alles, was Jenny wusste, war, dass sie eine Welt betreten hatte, die ihr vollkommen fremd war.
Sie wehrte Alisons Versuch ab, ihr eine wortwörtliche Wiedergabe der Unterhaltung mit den Geheimdienstleuten zu entlocken, und zog sich für den Rest des Nachmittags zurück, um ihren Bericht für das Innenministerium zu verfassen. Sie hielt ihn knapp und unverfänglich, zitierte nur selten andere Fälle und gab sich alle Mühe, einen vernünftigen und beherrschten Ton anzuschlagen. Das Ministerium könne mit vollster Berechtigung, so argumentierte sie, zu dem Schluss kommen, dass es für eine Untersuchung nicht genug Gründe gab, vor allem wegen des Fehlens einer Leiche. Dennoch müsse im Namen der Gerechtigkeit eine Untersuchung als wünschenswert angesehen werden.
Zu guter Letzt bleibt noch auf Folgendes hinzuweisen , schrieb sie und erlaubte sich etwas rhetorischen Überschwang.
Während andere Ermittlungsinstanzen der Krone von den Angehörigen beschuldigt wurden, eigene oder politische Interessen zu verfolgen, ist der Coroner eine wahrhaft unabhängige Instanz, deren einzige Pflicht es ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Obwohl die Erfolgsaussichten in diesem Fall eher gering sind, wäre ein negatives Ergebnis immer noch besser als der gänzliche Verzicht auf einen Versuch.
Jenny ließ den Bericht von einem Motorradkurier nach London bringen. Als er wieder fort war, ertappte sie sich dabei, dass sie ein stummes Gebet sprach.
6
M rs. Jamal hatte irgendwie Jennys Privatnummer in Erfahrung gebracht. Als Jenny auf Melin Bach eintraf, erzählte ihr
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