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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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übertroffen wurden. Hedonismus war angesagt, nicht Idealismus. Jenny konnte nicht behaupten, dass es zu ihrer Zeit in Birmingham anders gewesen war. Sie hatte zwar für die streikenden Bergleute und gegen die Atomkraft demonstriert, aber in Wahrheit war es ihr vor allem darum gegangen, mit ihrem Gitarre spielenden Freund herumzuhängen und im Studentenwerk Drinks zu schnorren. Sie und ihre Freunde hatten vielleicht ein bisschen weniger an Geld und Karriere gedacht als die heutigen Studenten, aber abgesehen von den heißen Phasen vor den Prüfungen war auch ihre Studienzeit eine drei Jahre lange Dauerparty gewesen.
    Unvermittelt sah sie sich gezwungen, ihr Urteil noch einmal zu überdenken. Etwa zehn junge Frauen in Burkas, die nur ihre Augen frei ließen, überquerten dicht aneinandergedrängt den Platz. Als sie an einer Gruppe junger Männer vorbeikamen, schauten sie beiseite oder zu Boden. Ihre Andersartigkeit war absolut. Verhüllt und unansprechbar schotteten sie sich von der Öffentlichkeit ab. Als Studentin hatte Jenny viele muslimische Freundinnen gehabt, Töchter aus streng orthodoxen Familien. Sie hatten nur darauf gewartet, die zu Hause geltenden Regeln über Bord zu werfen und sich wie alle anderen kleiden und benehmen zu können. Zwanzig Jahre und eine Generation später trugen die jungen Frauen noch konservativere Kleidung als ihre Großmütter.Angesichts einer verwirrenden, feindlichen Welt besannen sie sich wieder auf ihre Religion. Niemand zwang sie dazu. Es war ihre eigene Entscheidung.
    Leise glitt eine schwarze Limousine in eine Parklücke, als sich Jenny der Haustür ihres Bürogebäudes näherte und nach dem Schlüssel kramte. Eine Frau im Kostüm und ein männlicher Kollege, beide kaum über dreißig, stiegen aus und kamen auf sie zu.
    »Mrs. Cooper?«, fragte die Frau.
    »Ja?«
    Die dunkelhaarige Fremde war attraktiv, aber ihre Augen wirkten müde. Sie streckte Jenny die Hand hin. »Gillian Golder. Das ist mein Kollege Alun Rhys.«
    Rhys begrüßte sie höflich. Er war ein stämmiger junger Mann, der auch direkt vom Rugbyplatz eines Colleges hätte kommen können.
    »Dies ist nur ein freundlicher Besuch«, sagte Gillian Golder. »Wir sind Mitarbeiter des Geheimdienstes. Haben Sie einen Moment Zeit?«
    »Sicher«, sagte Jenny leichthin und führte sie durch den düsteren Hausflur.
    Ihr war nicht klar, ob sie das entspannte Vorgeplänkel beruhigend oder bedrohlich finden sollte. Sie war hinreichend vielen Regierungsfunktionären begegnet, um zu wissen, dass man heutzutage auch im Geheimdienst nach außen hin zugänglich und vernünftig wirken wollte, selbst wenn die Absichten, die sich hinter dem freundlichen Verhalten verbargen, noch immer dieselben waren. In einem pubertären Sinn hatte Coolness die alte Aufrichtigkeit abgelöst. Die Körpersprache sollte nichts verraten, und Worte galt es so zu wählen, dass man offen, positiv und zivil wirkte. Wer sich an diese Regeln hielt, gehörte dazu. Wer hingegen unnahbar odersteif wirkte, der hatte ein Problem in seinem Job und wurde besser nicht ernst genommen.
    »Ich schätze, Sie wissen, warum wir hier sind«, sagte Gillian Golder. Sie übernahm die Gesprächsführung, Rhys die Rolle des Beobachters.
    Jenny lächelte und gab sich Mühe, nicht eingeschüchtert oder defensiv zu wirken. »Ich nehme an, es hat etwas mit Nazim Jamal zu tun.«
    »Wir haben natürlich das Urteil des Richters letzte Woche gehört und können uns vorstellen, dass Mrs. Jamal bei Ihnen war, um Sie um die Einleitung einer gerichtlichen Untersuchung zu bitten.«
    Jenny hatte keine Zweifel, dass sie längst von dem Besuch wussten. Kriminalinspektor Dave Pironi hatte wahrscheinlich noch im selben Moment zum Hörer gegriffen, als sie ihn um ein Treffen bat. Aber das war Teil des Spiels. Golder wollte sehen, wie Jenny reagierte.
    »Das hat sie getan.«
    »Mhm. Nun, das ist nicht weiter überraschend. Die Sache muss hart für sie sein.«
    »Sicher.«
    »Und? Wie stehen Sie dazu?«
    »Wie ich dazu stehe?« Die Frage überraschte Jenny. »Ich mache nur meine Arbeit. Ich schreibe einen Bericht für das Innenministerium, das die Einleitung einer gerichtlichen Untersuchung genehmigen muss.«
    »Glauben Sie, Sie werden die Genehmigung bekommen?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Was uns betrifft, so denken wir, dass man Ihnen grünes Licht geben wird. Würde man die Untersuchung verweigern, sähe es so aus, als hätte man etwas zu verbergen.« Rhys nickte zustimmend. »Und wir tun doch alle

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