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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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überließ es seiner Frau zu antworten.
    »Ich habe ihn manchmal angerufen«, sagte sie. »Alle ein, zwei Wochen. Ich wollte ihm sagen, dass wir ihn immer noch lieben und jederzeit für ihn da sind.«
    »Das klingt fast so, als hätte er nichts mehr mit Ihnen zu tun haben wollen.«
    »Er steckte in einer rebellischen Phase. So sind die jungen Leute in diesem Land doch, oder? Das kommt von dem Luxus, dass man nicht täglich zur Arbeit gehen muss.«
    Ihr Ehemann nickte ernst.
    »Für uns war das alles neu, Mrs. Cooper«, fuhr Mrs. Hassan fort. »Wir wussten, dass Rafi eigentlich die richtigen Werte verinnerlicht hatte. Achtzehn Jahre lang haben wir uns darum bemüht.« Zum ersten Mal drohte ihre Stimme zu brechen. »Wir dachten, wir müssten nur warten, dann käme er wieder zur Besinnung.«
    »Und Sie haben bei niemandem Rat gesucht?«
    Beide schüttelten den Kopf.
    »Hat Rafi je von anderen Freunden oder Bekannten gesprochen? Von irgendjemandem aus der Moschee zum Beispiel?«
    »Nein«, sagte Mrs. Hassan. »Was das angeht, hat er sich sehr bedeckt gehalten. Manchmal hat er über sein Studium geredet. Er hatte einen Tutor, den er ein, zwei Mal erwähnt hat, Tariq Miah.«
    Jenny notierte sich den Namen.
    »Gibt es irgendetwas anderes, das ich über Ihren Sohn wissen sollte? Hobbys, Interessen? Hat er Sport getrieben?«
    Mrs. Hassan sah ihren Mann an, dann stand sie auf, ging ins Nebenzimmer und kam mit einer Mappe zurück. Als Jenny sie öffnete, fand sie darin etliche Zeugnisse. Rafi Hassan hatte überall Bestnoten: in Latein, Griechisch, Arabisch, Geschichte.
    »Er war ein sehr guter Schüler«, sagte Mrs. Hassan. »Seit er acht war, hat er seine gesamte Freizeit damit verbracht, zu lesen und zu lernen. Manchmal hat er Kricket gespielt, aber ohne die Leidenschaft seiner Brüder. Er war überhaupt nicht wie sie. Rafi war ein Intellektueller.«
    »Dann muss seine Veränderung für Sie noch schockierender gewesen sein«, sagte Jenny.
    Keiner der beiden antwortete.
    Als sie ging, hörte Jenny, wie Mr. Hassan zu seiner Frau sagte, dass er den Rest des Nachmittags daheimbleiben würde. Zurück im Wagen fuhr sie zwischen den Steinlöwen hindurch, bog nach links ab und kehrte nach Kings Heath zurück.
    Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag vor Mr. HassansLaden parkte, sah sie, wie der junge Mitarbeiter, mit dem sie zuvor gesprochen hatte, schwere Einkaufstüten zum Wagen eines älteren Kunden schleppte. Ihre Erinnerung hatte sie nicht getrogen: Er sah aus wie Rafi auf dem Foto, das in ihren Akten lag. Auf dem Rückweg in den Laden passte sie ihn ab.
    »Entschuldigen Sie.« Er drehte sich mit einem freundlichen Lächeln um. »Ich bin’s schon wieder. Hallo. Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
    Er zeigte in den Laden. »Ich muss an die Kasse.«
    »Es dauert nur eine Minute.«
    »Ich kann nicht …«
    »Wissen Sie, was ein Coroner ist?«, fragte Jenny. »Wenn Sie jetzt nicht mit mir reden wollen, schicke ich Ihnen eine Vorladung, dann müssen Sie vor Gericht aussagen. Sie haben die Wahl.«
    Der junge Mann schaute nervös durch das Ladenfenster zu einem Kollegen hinüber, der gerade einen Kunden bediente. »Ich kann hier nicht sprechen.«
    »Kein Problem. Wir können uns in meinen Wagen setzen.«
    Sein Name war Fazad, er war einer von Mr. Hassans zahlreichen Neffen. Als Rafi verschwand, war er elf gewesen. In der Familie wurde danach kaum noch über Rafi gesprochen. Über sein Verschwinden habe er, Fazad, nichts als die offizielle Erklärung gehört, dass er ins Ausland gegangen sei. Seines Erachtens hatte sich nie jemand Gedanken darüber gemacht, wo er tatsächlich hingegangen sein könnte und mit wem. Das Thema sei tabu gewesen, sagte er, so als wäre das Ganze eine Schande. Als Kind dagegen sei Rafi immer als Musterschüler hingestellt worden, als jemand, an dem er selbst und seine Cousins sich ein Beispiel nehmen sollten.
    Jenny fragte, ob er eine Ahnung habe, was damals in den Weihnachtsferien passiert sei.
    Fazad schien sich plötzlich unbehaglich zu fühlen. »Ich möchte nichts Schlechtes über meinen Onkel sagen. Er ist immerhin mein Chef.«
    »Es bleibt unter uns«, sagte Jenny. »Niemand wird etwas davon erfahren.«
    Nach einem weiteren nervösen Blick in den Laden sagte Fazad: »Rafi hat mich damals in seinem Wagen mitgenommen, als er aus dem College kam. Er fuhr einen Audi A3, schon ein paar Jahre alt, aber ganz ordentlich. Ich habe ihn gefragt, ob sein Vater ihm den geschenkt habe, und er sagte, nein, den habe

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