Totenstätte
es zu etwas gebracht. Sie wohnten in einem großen, allein stehenden Haus im wohlhabenden Vorort Solihull. Die Einfahrt war asphaltiert, und das elektrische Tor wurde von zwei Steinlöwen flankiert. Mr. Hassan, Mitte sechzig, fuhr einen Jaguar. Er war ruhig, höflich und sprach gutes Englisch. Im Haus wartete seine Ehefrauauf sie, eine immer noch attraktive Frau in einem schwarzen, goldbestickten salwar kamiz . Nach der förmlichen Begrüßung setzten sie sich in den warmen Wintergarten, von dem aus man auf einen großen, gepflegten Garten hinausschaute. Zwischen Palmen stand ein kunstvoller Brunnen, ein goldener Karpfen spie Wasser in ein farbig beleuchtetes Becken.
»Wir hatten so etwas schon erwartet«, sagte Mrs. Hassan. »Allerdings können wir Ihnen nichts Interessantes erzählen. Wir haben uns schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass wir nie erfahren werden, was mit unserem Sohn passiert ist.«
Ihr Ehemann nickte unsicher.
»Ich möchte keine schmerzhaften Erinnerungen wecken«, sagte Jenny, »außerdem geht es bei meinen Ermittlungen ja auch nicht direkt um den Fall Ihres Sohnes. Trotzdem wäre ich dankbar, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stellen dürfte.«
»Sicher«, sagte Mr. Hassan, bevor seine Frau protestieren konnte.
Sie machte ein finsteres Gesicht. »Die Polizei sagte damals, Rafi sei ins Ausland gegangen. Ich glaube ihr. Aber es war nicht seine Idee. Er war ein guter Schüler und ein treuer Sohn.«
»Haben Sie irgendeine Veränderung an ihm bemerkt, nachdem er angefangen hatte zu studieren?«, fragte Jenny. »Etwa in seiner religiösen Haltung oder in seiner Erscheinung?«
»Vermutlich hat Mrs. Jamal Ihnen das alles schon erzählt. Ihr Sohn hat ihn mit in diese Moschee genommen. Wir sind Anhänger des Sufismus. Politik hat in der Religion keinen Platz. So haben wir auch Rafi erzogen.«
Mr. Hassan nickte. In seinem schwarzen Anzug, das Gesicht rasiert, ließ er nach außen hin keinerlei Anzeichen füreine religiöse Gesinnung erkennen. In seinem Laden wurde Alkohol verkauft, die Familie lebte in einem Viertel, in dem der Großteil der Bewohner weiß war.
»Wann hat er sich verändert?«, fragte Jenny. »War das während seines ersten Trimesters in Bristol?«
»Man hat ihm Flausen in den Kopf gesetzt«, sagte Mrs. Hassan scharf. »Er wollte Rechtsanwalt werden.«
»Ja«, unterbrach sie ihr Ehemann. »Es war während des ersten Trimesters. Wir dachten, es sei nur eine Phase. Junge Menschen brauchen Ideale. Meines bestand darin, ein Geschäft aufzumachen. Wir hatten gehofft, die Phase ginge vorbei.«
»Aber sie ist nicht vorbeigegangen?«
»Wer auch immer diese Leute waren, an die sie geraten sind, sie haben die Jungen gegen ihre Familien aufgehetzt, Mrs. Cooper«, sagte Mrs. Hassan. »Sie haben sie davon überzeugt, wir würden falsche Werte vertreten. In der Woche vor Weihnachten war er noch einmal zu Hause, aber dann ist er im College geblieben.«
»Sind die Studentenwohnheime während der Semesterferien nicht geschlossen?«
»Er hat gesagt, er würde bei Freunden unterkommen.«
»Sie müssen sich Sorgen gemacht haben.«
»Wir haben sechs Kinder«, sagte Mr. Hassan. »Wir machen uns um alle von ihnen Sorgen.«
Die beiden tauschten einen Blick aus. Jenny hatte den Eindruck, als wollte Mr. Hassan seine Frau ermahnen, sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Ihr Gesicht verriet Wut, sie schien einen Schuldigen finden zu wollen.
»Was hat Ihr Sohn über Nazim erzählt?«
»Nichts. Bis zu ihrem Verschwinden hatten wir nicht einmal seinen Namen gehört«, sagte Mr. Hassan.
Die nächste Frage stellte Jenny direkt an seine Frau. »Undwarum glauben Sie dann, dass es Nazim war, der Ihren Sohn auf die falsche Bahn gelenkt hat?«
»Die Polizei hat herausgefunden, dass sie Freunde waren. Sie sind zusammen in die Moschee gegangen. Und zu diesen Treffen.«
Jenny versuchte, Mrs. Hassan weitere Erklärungen zu entlocken, aber vergeblich. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass Rafi in den Bannkreis eines anderen Muslims geraten und seinem schlechten Einfluss erlegen war. Jenny fragte nach weiteren Details zu Rafis Verhalten während seiner Studienzeit, erhielt aber als Antwort nur Schulterzucken und Kopfschütteln. Offenbar hatte es zu Beginn der Weihnachtsferien eine Auseinandersetzung gegeben, die immer noch schmerzliche Erinnerungen weckte.
»Wie oft haben Sie zwischen Januar und Juni mit ihm gesprochen?«, fragte Jenny.
Mr. Hassan starrte auf den Tisch und
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