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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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liebe Zuschauer, das sind keine guten Aussichten
    »Ich trank meinen Morgenkaffee und ahnte nichts Böses.
    Es klingelte. Ich ahnte noch immer nichts Böses.
    Der Briefträger brachte mir ein Schreiben.
    Nichts Böses ahnend, öffnete ich es.
    Es stand nichts Böses darin.
    Ha!, rief ich aus. Meine Ahnung hat mich nicht betrogen.«
    Die Ahnung von Erich Mühsam ( 1878–1934 )

39
    Ich will nicht so tun, als wüsste ich die Wahrheit und könnte sie Ihnen hier sagen. Die Wahrheit ist eine Illusion. Und wir haben eine Inflation an Wahrheit. Jeder hat seine eigene, und keiner glaubt mehr dem andern.
    Wie hat es so weit kommen können?
    Seit Sommer versuche ich, den Wust aufs Papier zu bringen. Die Sprache ist ein lahmer Hund. Sie nervt mit ihren sperrigen Gesetzen. Ich will immer alles auf einmal sagen: was am Anfang war, was es bewirkte, wie es sich verknüpft hat mit den Menschen, die mit mir unterwegs waren, und wozu es führte. Am liebsten in einem Satz, in drei Worten.
    Oma Scheible versorgt mich mit Obst und abends einem warmen Essen. »Sie müsset schdark sei, jetzet, es hängt doch elles an Ihne!« Und Zigaretten, Kaffee. »Ich unterschtütz des eigentlich net, aber in dem Fall.« Und sie hält mich auf dem Laufenden. »Hen Sie g’hört, des mit der Gondel von dem Karussell auf dem Rummel. Einfach fort ischse floge! Was da hätt passiere könne! Des war wieder der Bue, der wo Psi kann, gell? Des Schiff, wo g’sunke isch, des war auch der , saget se im Fernsehe. Und jetzt des Kernkraftwerk in Frankreich.«
    »Hören Sie nicht hin, Frau Scheible!«, sage ich. Aber sie kann es nicht lassen. Sie ist süchtig. Und jedes neue Unglück verstärkt die Unruhe. Jeden Sonntag bekommen die Sonntagsdemonstrationen von Andorra bis Lappland, von Feuerland bis Myanmar neuen Zulauf.
    »Aber dass die den Tod von dem Bue fordere, des geht fei net«, meint Oma Scheible. »Ma isch doch Chrischt, oder net? Aber wie willsch’n Mensche schtoppe, der wo geischtig Verbreche begeht? Ich war am Sonntich jetzet au amal unte, obgleich man des obe ja auch hört, des G’schrei. Des macht mir Angscht. Des isch an Hass, wo die hen! Des isch wie’n Hexetreibe.«
    Auch ich kann mich draußen derzeit nicht blicken lassen. Sie schreien mir hinterher. Meine Post wirft Oma Scheible gebündelt vom Briefkasten direkt in die Altpapiertonne. Mein E - Mail-Kasten quillt über von Bittbriefen und Beschimpfungen. Deshalb kommt jetzt Sally jeden Tag mit ihrer altersschwachen Senta und ihrem jungen Jack Russell namens Ghost, um Cipión zum Spaziergang abzuholen. Die Beamten, die im Polizeiwagen vor meiner Haustür Dienst tun, kennen sie inzwischen. Ich höre, es gebe sogar einen, der sich jetzt schon mehrmals auf diese Schicht getauscht hat. Boris soll er heißen.
    Ich habe zwar Drohungen bekommen, aber eigentlich steht die Polizei wegen der Presse da. Einer ist schon hintenherum bei den Matuscheks durch die Küche ins Haus eingedrungen. Aber er wurde im Hochparterre von Oma Scheible gestellt. Es geht die Rede, sie habe mit einem Besen auf ihn eingeschlagen. Aber das könnte auch in den Bereich der Mären fallen, die derzeit Hochkonjunktur haben.

40
    Beim Frühstück mit Blick auf den Hamburger Hafen bot Oiger Groschenkamp uns seinen Privatjet für die Heimreise nach Stuttgart an. Richard lehnte höflich dankend ab. Er habe in Hamburg noch einiges zu erledigen, er werde später den Zug nehmen.
    Ich kannte ihn: Wenn er sich schon über seine Grundprinzipien unbedingter Gesetzestreue hinweggesetzt und ohne Einladung Privaträume durchsucht hatte – mit dem jesuitischen Argument, als Deryas Verehrer Gast des Hauses zu sein –, dann musste er gehofft haben, etwas ganz Bestimmtes zu finden. Und er hatte es gefunden. Deshalb schien es ihm nun geboten, keine gemeinsame Sache mehr mit dem Delinquenten zu machen. Ich hätte zu gern gewusst, was er entdeckt hatte. Ich hätte ihm auch gern mitgeteilt, was Oiger Groschenkamp mir verraten hatte, aber entweder turtelte Derya mit ihm oder Oiger Groschenkamp prüfte ihn auf seine Eignung als Geliebter seiner Tochter.
    »Warum sind Sie noch nicht Generalbundesanwalt? Ich kann mich für Sie starkmachen. Ich habe gute Kontakte. Oder ist Ihr Staatsexamen zu schlecht?«
    Richard antwortete geduldig, aber knapp: »Mir fehlt der Ehrgeiz.« Oder: »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
    Groschenkamp lachte jedes Mal und blinzelte mir zu.
    Erst als wir das Haus verließen und durch den Vorgarten gingen, hatte ich

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