Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
tollen Orgasmus, dann wird das nichts oder es ist schon vorbei. Ja, und hinterher war ich total ausgepowert.«
»Glücklich?«
»Doch … ja. Stolz! Es ist anstrengend. Man muss sich konzentrieren, so sehr, dass man tatsächlich nichts anderes mehr wahrnimmt, nichts mehr hört oder sieht. Sobald man wieder was denkt, ist der Zauber vorbei. Dann macht die Maschine, was sie will, und man selber auch. Als das Flugzeug sich dem Boden näherte, habe ich irgendwann gedacht: Springt an, ihr blöden Triebwerke. Da war kein Raum für Zweifel. Ich habe nicht gedacht, jetzt denke ich, sie sollen anspringen, und vielleicht klappt es dann und sie springen an, und das wäre dann Psi. Da war kein Raum für Konjunktiv und Potentialis. Ich wollte, dass sie anspringen, und es hat mich nicht überrascht, als sie es taten. Und umgekehrt: Ich hätte nicht gedacht, ›Springt an‹, wenn keine Chance bestanden hätte. Dann hätte ich gedacht: ›O Gott, wir stürzen ab! Das kann doch nicht wahr sein‹ oder so ähnlich.«
Die drei Frauen schauten mich an wie ein Wundertier, das man gern in seiner Mitte hatte. Das war schön. Ich vergaß, mich aufzumanteln, und spürte, dass ich ich war, auch wenn ich nichts darstellte. Ganz ungewohnt. Daraus hätte vielleicht sogar was werden können, wenn ich mich in diesem Augenblick entschlossen hätte, in Hamburg zu bleiben und im Karolinenviertel einen Herrenausstatter für Damen aufzumachen.
»Wenn du ihn schon einmal bezwungen hast«, sagte Else, »dann könntest du ihn vielleicht noch einmal bezwingen.«
Ich dachte an Finleys Kampf gegen den Tantrik. »Ja, in einer öffentlichen Show. Er muss ein Metronom stoppen und ich sorge dafür, dass es weiterläuft. Die Wette würde ich gewinnen. Es würde ihn aber nicht davon abhalten, das nächste Flugzeug vom Himmel zu holen oder zumindest hinterher zu behaupten, dass er es war.«
»Hat er das jemals behauptet?«
»Nein. Bisher nicht, soviel ich weiß.«
Wir glaubten ja auch gar nicht, dass irgendwer zu so etwas fähig wäre. Andererseits fühlten wir sehr deutlich, dass wir uns in einem System befanden, das auf dem Weg war zu kippen. In vielen Fällen, wo man aus momentanen Fakten düstere Zukunftsprognosen entwickelt, erfüllen sie sich nicht. Aber in diesem Fall machten wir gar keine Prognosen. Wir spürten nur, dass etwas begonnen hatte, was wir einige Wochen später mit Fassungslosigkeit betrachten würden. Und ich weiß nicht mehr, aus welchem meiner Halbgedanken die Idee entstand, ich müsste alles noch einmal durchdenken und den Augenblick finden, wo ich Teil der Verschwörung geworden war, um mich daraus zu lösen und den Spuk zu beenden.
»Es ist nämlich«, erklärte ich, während draußen Hosenbeine und Unterleiber am Schaufenster vorbeigingen, »der Beobachter der Feind jedes Spuks.« Mir fiel erst jetzt wieder ein, was Finley mir auf dem Weg durch die Vaults erzählt hatte und was mir so unwichtig erschienen war, dass ich vergessen habe, es zu erwähnen. »Ein Freund von Finley hat Séancen gemacht, bei denen sich seltsame Dinge ereigneten, Lichter entstanden, ein Tuch schwebte. Er wollte es filmen, stellte eine Kamera auf. Sie machten eine Séance und irgendwas Schönes geschah. Als sie es dann auf Video anschauen wollten, stellte sich heraus, dass die Kamera nicht funktioniert hatte. Beim nächsten Mal achtete man darauf, dass die Kamera aufzeichnete, aber nichts geschah in der Séance. Es scheint, als wüsste das System, ob es beobachtet wird oder nicht. Wobei niemand der Teilnehmer wusste, dass die Kamera nicht funktioniert hatte. Finley hat seinem Freund den Rat gegeben, nur mit halbem Auge hinzugucken, sprich, die Kamera nur einen Ausschnitt des Raums filmen zu lassen. Daraufhin ereigneten sich tatsächlich wieder seltsame Dinge. Aber immer so, dass die Kamera sie nur halb erfasste. Beispielsweise schwebte ein Tuch nur am unteren Bildausschnitt. Skeptiker hätten immer noch sagen können, man sähe die Hand nicht, die das Tuch hochhalte. Andererseits hat keiner der Teilnehmer gewusst, welchen Ausschnitt die Kamera jeweils aufzeichnet.«
Also musste ich Beobachterin werden, schlussfolgerten wir.
»Ich bin Verlegerin«, sagte Else. »Ich würde vorschlagen: Schreib es auf. Schreiben ist seit jeher die Methode, sich der entscheidenden Momente der Biografie bewusst zu werden, sie noch einmal zu beobachten, wa? Dann verlieren sie die Macht über das Unbewusste.«
Leider waren wir gezwungen, die Weiberverschwörung
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