Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
sprang plötzlich auf und lief ins Zimmer hinein. Als sie sich zu mir umdrehte, war irgendwas mit ihr geschehen. Ihre Augen blitzten. »Warum glaubt eigentlich jeder, ich müsste mir nur vorstellen, ich hätte ein Kind, damit ich mich so verhalte, wie er es wünscht? Als ob Frauen nur als Mütter Entscheidungen treffen könnten und ansonsten herzlos sind.«
»Oh!«
»Dass ausgerechnet du in dasselbe Horn bläst! Wo gerade du dir alle Mühe gibst, dich nicht als Frau ertappen zu lassen. Du bist sogar Feministin, hat mir Richard erzählt. Oder bist du das nur, wenn es dir in den Kram passt?«
»Was erzählt er dir eigentlich ständig für Sachen über mich?«
»Ich bin Psychologin, Lisa. Schon vergessen?«
»Ach was! Und er heult sich bei dir aus oder was?«
»Nein, Lisa. So gut solltest du ihn kennen, dass er sich nicht ausheult. Ganz im Gegenteil. Er versucht, dir gerecht zu werden. Im Grunde ist er mächtig stolz auf dich.«
»Ach, so kommt das bei mir aber gar nicht an.«
»Was erwartest du? Dass ich die Vermittlerin zwischen euch beiden spiele?«
»Triffst du dich noch mit ihm?«
»Wir haben uns ein Mal getroffen.«
»Und?«
Sie lächelte schief. »Ich fürchte, du hattest recht. Sagen wir es so: Sein Interesse an mir ist nicht ungeteilt.«
Ich starrte sie an wie Tiefbahnhof.
»Ich will damit sagen, er hat mich tatsächlich als Türöffner benutzt. Ich hätte es selbst merken können. Aber ich habe es für Interesse an mir gehalten, dass er sich nach meinem Vater erkundigte. Eine Berufsdeformation von uns Psychologen. Wir fragen einen Menschen, den wir kennenlernen wollen, immer irgendwann nach den Eltern. Mein Vater war für mich, als ich Kind war, der reine Schrecken. Er hat mich gezeugt und meine Mutter dann ziehen lassen. Als ich fünf Jahre alt war, kam er mich plötzlich besuchen. Vier Wochen später wurde ich in einen Flieger gesetzt und landete in Hamburg. Mein Vater hatte mich gekauft, wie mir später klar wurde. Eine Erklärung bekam ich dafür nicht. Er hielt es für ausgemacht, dass mir der Vorteil einer westlichen Erziehung und Ausbildung von selbst einleuchten würde. Aber ich habe von heute auf morgen meine Familie verloren, alle Menschen, die mir lieb waren, mein Dorf mit den Hühnern, den Kindern, den vertrauten Wegen, dem klaren Licht. Ich kam ins regnerische Hamburg, ich musste Deutsch lernen. Dann hat er mich in Schweizer Internate gesteckt.«
»Richard hat mir erzählt«, ich musste grinsen, weil wir uns hier erzählten, was der Mann uns jeweils übereinander erzählt hatte, »deine Tanten hätten in dir die Wiedergeburt deiner Mutter gesehen. Und das hätte … nun ja … deine Identität … wie drückt man das aus?«
»Das ist richtig. Bis heute geht es mir so, dass ich manchmal eine fremde Identität in mir fühle, meine Mutter. Deshalb reagiere ich empfindlich darauf, wenn jemand an meine Muttergefühle appelliert.«
»Tut mir leid.«
»Schon gut. Konntest du ja nicht wissen. Und es ist richtig. Ich habe einen Schaden weg. Ich kann keine Kinder bekommen, obgleich man bei mir organisch nichts feststellen kann. Ich bin nie schwanger geworden. Ich habe einfach höllisch Angst, bei der Geburt zu sterben und in der Seele meines Kindes herumspuken zu müssen.«
Das komplizierte Einfach, da war es wieder. Aber es war komplett stimmig. Ich nickte.
»Rational betrachtet, bin ich meinem Vater dankbar, dass er mich da rausgeholt hat«, fuhr sie fort. »Ohne ihn wäre ich heute die unglückliche Ehefrau eines alevitischen Bäckers oder Korbbinders und würde an Reinkarnation glauben. Andererseits könnte ich mit der Mutter in mir vermutlich besser leben, denn es wäre von meiner Umgebung als natürlich betrachtet worden. So aber jette ich durch die Welt und decke den Betrug hinter solchen Berichten auf, immer auf der Suche nach dem einen Fall, der nicht zu widerlegen ist. Dann dürfte ich glauben, meine Mutter, die ich nie kennengelernt habe, lebe in mir fort. Genetisch tut sie das natürlich, aber …« Sie unterbrach sich. »Ich will dich nicht mit den Theorien zur Reinkarnation langweilen. Aber es ist nicht üblich, dass die Seele der Mutter im Moment ihres Todes in ihre Tochter übergeht. Normalerweise bringt sie eine Weile in einem Zwischenreich zu, wo sie einen neuen Astralleib bekommt. Wird man dann wiedergeboren, hat man zwar Eigenschaften und Erfahrungen des Menschen, der man vorher war, nicht aber eine bewusste Erinnerung daran. Etwa so, wie wir uns ja auch nicht
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