Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
dicht bei ihm, nämlich untergehakt, dass ich sie ihm zuordnen konnte. Und das war – Überraschung! – Desirée Motzer. Fröstelig schmal in schwarzem Mäntelchen und kniehohen Stiefeln mit hohen Absätzen. Da schau her! Was um alles in der Welt hatte Rosenfeld bewogen, das Sonnenscheinchen auf die heikle Mission mitzunehmen? Wenn es um den Beweis ging und um eine Million Euro, da mussten alle den Mund halten können. Nun gut, es gab keinen Grund, einer Desirée zu unterstellen, dass sie den Mund nicht halten konnte, nur weil sie ins Büro das kleine Schwarze anzog. In der Tat hatte sie nichts gesagt.
Ich strich mit der Computerlupe über weitere Personen in Rosenfelds Nähe. Zweite Überraschung: Der Alte mit der Schiffermütze und einem dicken Mantel sah verflucht nach Oiger Groschenkamp aus. Dasselbe saftige Gesicht, der weiße Kinnbart. Das hatte er mir ebenfalls gründlich verschwiegen.
Zwischen ihm und Rosenfeld, etwas weiter hinten stehend, machte ich einen Burschen in Arktisjacke, Schal, Schirmmütze und Kapuze mit dunklen Brauen und dunklen Augen aus. Vielleicht Héctor Quicio, vielleicht auch nicht. Es wurde Zeit, dass ich ihn auftrieb. Und wenn ich nach Alicante flog!
Juri Katzenjacob kannte ich nur von Fotos, aber der, der auf Desirées anderer Seite stand, sah so aus, als könnte er es sein. Er musste es sein, denn sonst hätte die Reise der Gruppe keinen Sinn ergeben.
Von den fünfen, die Anfang des Jahres in Neuschwanstein gewesen waren, war nur Desirée für mich erreichbar, um mir von dem Besuch zu erzählen. Ich rief in Holzgerlingen an. Aber kein Mensch nahm ab. Das Schicksal der Journalisten an einem Freitagnachmittag.
Montag erfuhr ich erst im Lauf des Tages über diverse Links in Facebook, dass der Gute Tag und das Bielefelder Abendblatt die Schraube noch mal angezogen hatten. Beide berichteten über die Wasserburg in tiefster schwäbischer Provinz, die schaurige Leiche, das verschlossene Zimmer, eine Giebeluhr, die auf 20 Uhr 03 stand – 23 , die Zahl der Illuminaten –, und über das Zeichen einer ominösen protestantischen Sekte, die sich Culdees nannte und von der Gruppe der Elfmänner geführt werde, den Hendeka, welche die Welt per Mind-Control regiere. Die fast gleichlautenden Artikel gipfelten in der Frage: »Wurde Juri Katzenjacob von den Elfmännern für ihre finsteren Zwecke manipuliert? Wurde er dazu ausersehen, die Welt in Angst und Chaos zu stürzen? Musste der angesehene Physiker und Parapsychologe Gabriel Rosenfeld sterben, weil er das Talent von Katzenjacob erkannt hat?«
Woher, verdammt, wussten die das? Über die Kuldeer hatten wir in Schottland gesprochen. Das konnte der Gute Tag von den Kollegen haben. Aber wir hatten dort nicht über das verschlossene Zimmer und auch nicht über die stehengebliebene Uhr geredet. Schon gar nicht über die Hendeka, die Elfmänner der athenischen Gerichtsbarkeit, die Richard aus den Ziffern der Uhrzeit errechnet hatte: 8 plus 3 sind 11 . Das hatten Derya, Richard und ich am Vorabend unserer Schottlandreise auf Kalteneck besprochen.
Und das bedeutete?
Ich musste nach Holzgerlingen. Mit Desirée Motzer hatte ich ja auch noch was zu klären. Bevor ich in meinem Schubladenkram den Wanzendetektor gefunden hatte, rief Kitty zu Salm-Kyrburg an und fragte, wann denn nun unsere PU in Neuschwanstein stattfände. Die Zeit dränge. Janette habe mehrere Visionen gehabt, es drohe große Gefahr, sehr große.
»Ich arbeite dran!«, hechelte ich. Ich bin nicht dafür geboren, viele Dinge gleichzeitig zu machen. Es ist eine Erfindung der Männer, dass Frauen multitasking-fähig seien. Sie bezwecken damit, dass eine Frau es für ihre herausragende Begabung hält, gleichzeitig Excel-Tabellen auszufüllen, Kaffee zu kochen, an den nächsten Termin des Chefs zu denken und sich dabei seine langwierigen Urlaubserinnerungen anzuhören, ohne sich zu beschweren.
42
Die Burg Kalteneck lag gleißend in der Dorfsonne. Maiglöckchen blühten an der Böschung. Enten zogen ihre Bugwellen durch den glitzernden Graben. Die Eingangstür unten stand offen. Im Vortragssaal waren Frauen dabei, Stühle aufzustellen. Ein Plakat kündigte einen Vortrag in der Reihe Lebenshilfe an. »Kann ich Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen?«
Auch die Tür oben war offen, Desirées Schreibtisch nicht besetzt, der Computer kalt. Rosenfelds Büro stand sperrangelweit offen. Der Schreibtisch war leer. Es sah nicht aus, als hätte Derya als neue Institutsleiterin die Absicht, in
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