Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
dieses Büro umzuziehen. Ihres am Ende des Gangs war auch viel schöner. Ich tappte nach hinten. Das Ledersofa mit Tisch und zwei Sesseln war das Erste, was mir in den Blick kam. Der Schreibtisch, daran erinnerte ich mich, stand im toten Winkel weit nach rechts in die Ecke des Raums geschoben.
Dort saß sie, blickte auf und gab einen Ton unangenehmer Überraschung von sich. Sie hatte ihr teerschwarzes Haar zu einem Knoten gebunden. Ich hatte zwischendurch vergessen, wie appetitlich sie aussah. Am beinahe Ende des Tages war der Lippenstift auf den vollen Lippen verblasst, doch die Augen lagen immer noch in ihrem zur Mandel stilisierten Bett aus Kajal, Mascara und Lidschatten. Sie trug einen leichten roten Blazer und eine gemusterte Bluse. Weiblichkeit kann so schön sein!
»Hallo«, sagte ich. »Ich suche Desirée Motzer.«
»So!« Derya schob sich eine Strähne hinters Ohr. »Sie ist krankgeschrieben, seit einer Woche.«
»Was hat sie denn?«
»Das darf ich Ihnen …äh«, ihre Braue zuckte, »dir nicht sagen, abgesehen davon, dass ich es nicht weiß.«
Ich freute mich, dass sie sich ans Du erinnerte, auch wenn wir es wüst eingeführt hatten. Immerhin hatte ich ihr mal mit Unterwäsche ausgeholfen.
Sie besann sich, lächelte sogar. »Ich nehme an, es gibt Probleme mit der Schwangerschaft.«
»Ach ja.« Das leuchtete ein, beruhigte mich aber nicht. »Ist es wirklich von Rosenfeld?«
»Das weiß ich nicht. Warum fragst du?«
»Sie war zusammen mit Rosenfeld in Neuschwanstein.«
Derya zog die Brauen hoch.
Ich zog mein Handy, rief das Foto auf, das ich am Freitag bekommen hatte, und vergrößerte es auf dem Display. »Du kennst doch Héctor Quicio. Ist er das?«
»Da ist ja mein Vater!«, rief sie überrascht. »Das hat er mir gar nicht erzählt.«
»Mir auch nicht. Und der da?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ja, das könnte Héctor sein.«
»Und das ist Juri Katzenjacob, nicht wahr?«
»Ich denke schon.« Derya gab mir das Handy zurück.
»Und nun würde ich gern mit Desirée reden.«
»Ich auch«, sagte Derya überraschend entschlossen. Sie schlug ein Adressbuch auf und blätterte. Dann nahm sie den Telefonhörer.
Ich begann mich zu entspannen. Wenn jemand zum Telefon greift, ist der erste Schritt zur Normalität getan. Es war gut, nicht allein zu sein. Richards Überblick fehlte mir. Ob er sich wohl mit Derya traf?
Sie legte wieder auf und sagte: »Geht niemand ran. Ich probier’s jetzt noch auf ihrem Handy.« Sie tippte und ließ es klingeln. »Nur die Mailbox.«
»Wohnt sie hier in Holzgerlingen?«
»Nein, in Stuttgart.« Sie blickte ins Adressbuch. »In der Adlerstraße. Keine Ahnung, wo das ist.«
»Stuttgart-Süd. Türkische Läden, alte Häuser.«
»Ihr Vater hat ihr die Wohnung gekauft, soviel ich weiß. Vielleicht ist sie überhaupt zu ihren Eltern gegangen. Falls sie liegen muss, wäre das sinnvoll. Ihre Eltern wohnen, glaube ich, in Heslach. Schauen wir mal im Telefonbuch.«
Ich ging um den Tisch herum, um einen Blick auf den Bildschirm zu bekommen. Sie duftete nach Rosen, Amber und einem Hauch Schweiß. Nachdem wir die Postleitzahl von Heslach herausbekommen hatten, konnten wir gezielt im Telefonbuch-Portal suchen. Es gab nur einen Motzer.
»Der ist es«, sagte Derya.
Sie griff erneut nach dem Telefon. Ich diktierte ihr die Nummer. Es tutete. Dann meldete sich jemand. Derya fragte, ob Desirée bei ihnen sei. Offensichtlich lautete die Antwort Nein. Derya stürzte sich in eine Erklärung: »Ach, ich finde nur eine … eine Adresse nicht, eine Telefonnummer, und ich wollte Desirée fragen, ob sie mir weiterhelfen kann. Vielen Dank, Frau Motzer. Nein, bitte machen Sie sich keine Mühe. So wichtig ist es auch wieder nicht.« Sie legte auf und schaute zu mir empor. »Die Mutter weiß nichts davon, dass Desirée krank ist.«
»Wann hat sie zuletzt mit ihrer Tochter Kontakt gehabt?«
»Das habe ich nicht gefragt.« Derya runzelte die Stirn. »Aber ich glaube, sie hat gesagt, letzte Woche irgendwann, Anfang letzter Woche.« Sie lächelte entschuldigend. »Ist das denn so wichtig?«
Ich hatte ein extrem ungutes Gefühl. »Dann werde ich wohl bei ihr zu Hause vorbeifahren müssen. Oder wir rufen gleich die Polizei an, vielmehr du rufst sie an.«
»Du glaubst doch nicht …« Angst klirrte in ihrer Stimme. »Und was soll ich der Polizei denn sagen? Nachher ist es falscher Alarm, und wir haben alle verrückt gemacht.«
»Wenn es deine Tochter wäre, was würdest du tun?«
Sie
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