Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Polizei gehörig ins Handwerk pfuscht.«
An Richards Miene sah ich, dass er den Artikel auch gelesen hatte. Er ließ sich jedoch zu keinem Signal des Mitgefühls verleiten. Dabei hatte ich ihn, als die Zeitungen über ihn herfielen, immerhin mehrmals anzurufen versucht, was er auf seinem Handy gesehen haben musste.
»Nur weil ich dort war«, verteidigte ich mich, »haben Sie ein Foto von der Lage der Leiche, bevor Arzt und Polizei sie verändern mussten. Und Sie wollen mir sicher nicht unterstellen, dass ich sie so hingelegt habe. Zumal ich dann selbst nicht mehr aus dem Raum herausgekommen wäre.«
»Bei Gott nicht, Frau Nerz.« Sie lachte freundlich.
»Geben Sie es zu, Sie sind gottfroh, dass Sie das Geschiss mit dem Fall von der Backe haben.«
Sie grinste. »Na, Lust auf einen Kaffee? Kommen Sie, bei mir kriegen Sie einen. Und du auch, Richard. Es sind böse Zeiten, da muss man zusammenhalten, gell?«
Er gab keinen Hinweis, dass er das auch so sah. Aber sein Weg war derselbe wie der von Meisner und mir.
»Wie war das Wandern auf der Schwäbischen Alb?«, fragte ich.
»Schön.«
»Stopp, Richard«, sagte Meisner, als er Anstalten machte, zum Treppenhaus abzubiegen. »Ich muss euch beiden was erzählen.«
Als wir um den ovalen Tisch vor Kaffeetassen saßen, eröffnete sie uns, dass ihr letzter Amtsakt als zuständige Staatsanwältin vor zwei Wochen die Anordnung gewesen war, Juri Katzenjacob aus der JVA Stammheim in eine andere Justizvollzugsanstalt zu verlegen. »Hauptsächlich zu seinem eigenen Schutz. Die Mahnwache mit den schwarzen Armbinden vor der JVA Stammheim ist einfach zu groß geworden. Danach habe ich Katzenjacobs Zelle auseinandernehmen lassen. Und da haben wir ein iPad gefunden und einen starken Empfänger, dem der Störsender für Handys nichts anhaben kann. Katzenjacob stand also in ständigem Kontakt mit der Außenwelt. Er konnte sogar im Internet surfen. Den Sender haben wir in einem Schuppen auf freiem Feld unweit der JVA gefunden. Katzenjacob hatte keine Zeit mehr, sein iPad zu löschen. Daher wissen wir, dass er beispielsweise die genauen Daten eures Flugs nach Edinburgh besaß. Auch ein Foto von einer Boeing 737 haben wir gefunden.«
»Oha!«
»Außerdem hat er Flugpläne, Schiffsfahrpläne, Zugfahrpläne, Bilder von Kreuzfahrtschiffen und deren Routen, Fotos von Atomanlagen, Kraftwerken, vom BASF -Werk in Ludwigshafen, Ölplattformen, Gaspipelines und Rechenzentren gespeichert.«
Wir schauten uns erschrocken an.
»Aber …«, stammelte ich. Meine zuletzt gehegte Überzeugung war ja die gewesen, dass Juri mit Héctor einen großen Betrug geplant hatte. Folglich besaß er eben keine parapsychologische Begabung.
»Das beweist zunächst nur«, nahm Richard als Erster das Wort, »dass Katzenjacob sich intensiv mit Verkehrsmitteln und technischen Systemen beschäftigt hat. Es sagt nicht mehr über ihn aus, als dass er vermutlich von sich selbst glaubt, er besitze übernatürliche Fähigkeiten.«
Ich verdaute eine Weile.
Es war jedes Mal ein erstaunlicher Kraftakt, sich ins realistisch Wahrscheinliche zurückzudenken. Dass Juri glaubte, er könne Verkehrsmittel beeinflussen, hieß keineswegs, dass es ihm in auch nur einem Fall gelungen war. Nicht einmal in dem Fall unseres Edinburgh-Flugs. Und ich musste auch nicht sterben, weil er mit dem Finger auf mich geschossen hatte. Erstens hatte ich das mit einer richtigen Pistole gerade erst überlebt, und zweitens gibt es im Westen keinen soziokulturellen Tod. Wer bei Facebook entfreundet wird, hat Tausende, mit denen er sich neu befreunden kann. Und seit neuestem gibt es ja auch noch Google+.
Tatsächlich hatte Juris Blick mich nicht beunruhigt. Das war kein Monster, das mich angeschaut hatte, sondern ein ziemlich resignierter junger Mann, der hoffte, dass seine Rechnung aufging, und ahnte, dass es nicht so sein würde.
»Die entscheidende Frage ist nicht, ob er es kann, Gesine«, sagte Richard und riss mich aus meiner Trance. »Die entscheidende Frage ist, was passiert, wenn diese Information oder gar die Liste mit den Fahrplänen und Kraftwerken an die Öffentlichkeit gelangt. Zumal, wenn dann zufällig in einem Kraftwerk ein Unfall passiert, das auf der Liste steht.«
»Oder ein Flugzeug abstürzt.«
»Ich kann übrigens Lottozahlen beeinflussen«, sagte ich.
Die beiden Staatsmächte schauten mich entgeistert an.
»Doch, im Ernst. Ich weiß jetzt, wie es funktioniert. Ich habe mir eine 4 vorgestellt, und es fiel die 23 , die Zahl
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