Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
sein!«
Einen Moment saßen wir schweigend. Cipión lag Richard zu Füßen, eins mit sich und der Welt.
»Übrigens kannst du gerne eine rauchen, Richard«, sagte Meisner. »Je älter ich werde, desto wichtiger erscheint mir Toleranz.« Dabei warf sie ihre Tasse um und übergoss ihre blaue Hose mit Milchkaffee. »Wie ungeschickt. Das sollte ich besser gleich rausmachen.«
Und schon war sie zur Tür hinaus.
Richard und ich starrten erst einmal erschrocken auf unsere Kaffeetassen. Ich überlegte, ob das Angebot Meisners, eine Zigarette zu rauchen, auch für mich galt. Richard rührte sich nicht. Ich hob vorsichtig den Blick zu ihm hinüber. Er schaute mich an.
»Richard … äh … Es tut mir …«
Er hob die Hand. »Sage jetzt nichts, was du später bereust.«
War das komisch? Ich versuchte zu lachen. Er blieb ernst. So was konnte er gut. Sich nicht anstecken lassen von sozialer Buhlerei.
»Es tut mir aber wirklich leid, Richard. Ich habe mich …«
Er schnalzte abwehrend mit der Zunge.
Ich schluckte. »Dann möchte ich dir einen Deal vorschlagen.«
»Ich mache keine Deals.«
»Unentwegt, bei jedem zweiten Prozess. Ich verlange dieselben Rechte wie einer deiner Kriminellen, denselben Respekt.«
Er war durchaus gespannt. »Was möchtest du vorschlagen?«
»Zwei Jahre auf Bewährung.«
Er lehnte sich zurück. Und wartete.
»Dafür räume ich meine Vergehen ein und gelobe …«
»Nein, Lisa. So geht das nicht.«
Ha! Er nannte meinen Namen. »Wie dann?«
»Gar nicht.«
»Okay.« Ich nahm alles Persönliche aus meinem Gesicht. »Ich glaube, wir brauchen einander, wenn wir da heil rauskommen wollen. Ich will dich anrufen können, wenn ich etwas herausgefunden habe. Also bitte, lass uns miteinander umgehen wie … wie …«
Vernünftige Menschen, Kollegen, Freunde? Ich verwarf alles. Er würde an allem etwas auszusetzen haben. Ich war nicht vernünftig, Kollegen waren wir nie gewesen und Freunde, das war ihm als Schwabe zu intim. Er war nicht in Facebook, weil man sich da mit Kreti und Pleti befreunden musste.
»Wie zwei … zwei Kohlrabis«, vollendete ich.
In seinen Mundwinkeln zuckte was.
»Das ist das unerotischste Gemüse, das ich kenne, labbrige Blätter, fasrige Strünke, verursacht nach Genuss Blähungen.«
Das sparsamste seiner Lächeln erschien, aber es reichte bis in die Falten seiner Augen.
51
Der Ermittlungsrichter setzte Juri Katzenjacobs Haftbefehl nicht aus. Das hatte der junge Mann sich selbst zuzuschreiben, weil er, nachdem man im Sitzungsraum die Schließen abgenommen hatte, zum Fenster sprang und es zu öffnen versuchte. In der Folge stieß er außerdem Todesdrohungen gegen das Gericht aus sowie gegen den Bundespräsidenten, die Bundeskanzlerin und den Papst, dessen Besuch in Deutschland wir im September erwarteten. Man werde schon sehen, was man davon habe, wenn man ihn einsperre.
Das sagte Pressestaatsanwältin Nadja Locher in die Mikrofone, wie wir abends in der Tagesschau sehen konnten. Sie hätte es besser nicht gesagt, denn was sie da in ihrer grenzenlosen politischen und sozialen Unerfahrenheit ausplauderte, wurde gierig von den Medien aufgegriffen und zur realen Gefahr hochstilisiert, die uns bis heute verfolgt. Der Begriff Geistesterrorist oder mental terrorist wurde in den folgenden Tagen geboren.
Rechtsanwalt Nöthen stand auf verlorenem Posten, wenn er erklärte, hier werde jemand allein aufgrund seines Verhaltens und von Vermutungen, die an Irrationalität beispiellos seien, in U -Haft gesperrt und nicht aufgrund der Schwere der Vorwürfe oder gar erdrückender Beweise. Die Drohungen, die sein Mandant während der Haftprüfung ausgestoßen habe, das sei doch jedermann klar, seien völlig aus der Luft gegriffen und Katzenjacob keineswegs fähig, sie wahrzumachen, genauso wenig wie jeder andere, der hier vor ihm stehe.
Aber vielleicht wurde auch er geschmiert vom System Groschenkamp. Denn im Gefängnis war Juri Katzenjacob nicht nur sicherer aufgehoben als draußen, sondern wirkte auch rachsüchtiger und gefährlicher. Er wurde tatsächlich zum Fluch für unser Rechtssystem. Er wünschte uns Tod und Verderben. Aber man konnte ihn dafür nicht belangen. Man konnte nur ohnmächtig zuschauen.
Jeder bereitete sich nach seiner eigenen soziokulturellen Urteilskraft auf die Katastrophen vor, die er kommen sah. Man installierte Schließanlagen, bunkerte sich ein, kaufte unverderbliche Lebensmittel, suchte Trost in Kirchen und esoterischen Zirkeln, feierte Feste,
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