Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
als ginge morgen die Welt unter. Die Fußball- WM der Frauen, hoffnungsvoll und siegessicher von ARD und ZDF beworben, wurde auch nicht zur Erlösung, denn die deutschen Damen flogen im Viertelfinale raus. Dafür hatte er gesorgt.
Oma Scheible stand jeden zweiten Tag schief in meinem Salon, gestikulierte und klagte: »Schrecklich! Hen Sie des mit dem Bus g’hört. Und äll die Kinder tot. Im Fernsehe hen se g’sagt, der sei plötzlich in die Donau gerast, obwohl der Motor aus war. Des war er , des sag i Ihne. Und des mit dem Riesenrad aufm Prater. Wie sollte sich denn sonscht drei Schraube auf einmal löse?«
Glücklicherweise hatte sich das Riesenrad so langsam geneigt, dass man die Gondeln und den Prater evakuieren konnte, ehe es wie losgelassene Mikadostäbe auseinanderfiel.
»Bitte, Frau Scheible«, beschwor ich sie, »glauben Sie nicht alles, was das Fernsehen sagt.«
»I woiß scho. Aber ma macht sich halt so seine Gedanken.«
Machte ich mir auch, denn mich sprang die Erinnerung an mein Gespräch mit QarQ-Pressesprecher Ingmar Neuner an. Es war Monate her. Damals hatte er bestritten, genug Phantasie für den Einsatz eines Psi-Meisters zu haben, aber als Beispiel den Einsturz eines Riesenrads genannt. Ich war mir fast sicher, dass er es gewesen war, der Juri im Gefängnis Stammheim per Sender mit massenhaft technischen Daten versorgt hatte. Juri, das Versuchskarnickel für QarQ. Über Derya war er immer halbwegs auf dem Laufenden gewesen.
52
Bei Cloppenburg schlugen Männer eines Dorfs einen jungen Mann tot, der verdächtigt worden war, eine Katze zu Tode gequält zu haben. Und in diesen Tagen begannen die Sonntagsdemonstrationen.
In Stuttgart versammelte man sich nachmittags in der Neckarstraße vor der Staatsanwaltschaft. Wir waren die Ersten, glaube ich, bundesweit. Man trug schwarze Armbinden und hielt schwarze Plakate oder Pappkartons hoch. Von Anfang an trat der EU-Abgeordnete Michael Strohberg als Prediger auf. »Das Böse darf keine Macht über uns haben. Niemals darf einer über viele herrschen. Lasst uns stärker sein als das Böse. Lasst es uns aus der Welt vertreiben.«
Schnell gab es auch in Berlin, Hamburg und München Exorzismus-Demonstrationen am Tag des Herrn. Leute sagten in Fernsehkameras: »Man muss eine Lösung finden«, »Das ist Terror!«, »Verhungern lassen!« Am dritten Sonntag redete man schon von einer Million Demonstranten im ganzen Bundesgebiet. Nach dem, was ich von meinem Küchenfenster aus sehen und zählen konnte, erhöhte sich die Zahl allerdings zumindest in der Neckarstraße nicht nennenswert. Es waren um die anderthalbtausend, welche den Stöckach gänzlich blockierten. Aber unter der Woche sah man zunehmend Leute mit schwarzen Armbinden durch die Stadt laufen.
Eines Tages ertappte ich auch Oma Scheible mit so einer schwarzen Binde an den Briefkästen.
»Ma muss a Zeiche setze! Des muss aufhöre!«, erklärte sie.
»Und was verlangen Sie, dass geschieht?«
Sie schaute mich an. »Der kann doch mit uns net mache, was er luschtig isch. Da muss a Lösung her.«
»Und die wäre: ihn töten?«
»Ha noi. Des geht natürlich net so oifach.«
Nein, einfach war es nicht. Auch Strohberg verwahrte sich in zahllosen Interviews gegen die Unterstellung, er fordere den Tod von Juri Katzenjacob. Er sei Christ, kein Barbar. Aber er stelle der Politik und den Kirchen die Frage, was sie einem Geistesterroristen entgegenzusetzen hätten, der mit unheilvollen Mächten in Verbindung stand und unschuldige Menschen, Kinder, mit offenbar unbändigem Hass verfolgte und sie zu Tode ängstigte.
Es gab natürlich immer wieder auch Versuche, das Phänomen zu erklären. Die Medien beschuldigten sich selbst, sie hätten die Panik regelrecht herbeigeredet. Man führte Statistiken an, die zeigten, dass sich im laufenden Jahr nicht mehr Katastrophen und Unglücke mit Verkehrsmitteln ereignet hatten als in anderen Jahren. Aber es änderte nichts daran, dass Juri Katzenjacob die Welt beunruhigte bis nach Chile, Tibet, Laos oder Tasmanien. In Mexiko stürzte ein Bus in eine Schlucht – das war er –, auf der A1 fuhr eine Familie in den Tod – das hatte er getan –, bei einem Gewittersturm fiel ein Baugerüst um und tötete ein Kind – er !
Geschäftstüchtige Indios aus Peru verdienten sich eine goldene Nase mit dem Verkauf von Amuletten und Pachamamas. Australische Ureinwohner, Inder, Vietnamesen, Thailänder und Inuits sprachen Schutzzauber über Häuser und Autos.
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