Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Magier-Vermittlungsagenturen schossen wie Pilze aus dem Boden. Sicherheitsfirmen verkauften Faraday’sche Käfige zum Schutz vor Psi-Wellen, manche ließen sich ihre Häuser mit engmaschigen Blechnetzen überziehen, manchen genügten an allen Hausecken Blitzableiter, auch wenn Parapsychologen und Journalisten nicht müde wurden zu betonen, dass Psi nichts mit elektromagnetischen Wellen zu tun habe.
In Facebook wurde auf der Seite »Verteidigungsfall, Schutz der Zivilbevölkerung und Paragraph 115 a Grundgesetz« insgesamt über zwei Millionen Mal »gefällt mir« angeklickt. Eine weitere Seite forderte die Regierung in Baden-Württemberg auf, »gemäß Paragraph 115 i des Grundgesetzes festzustellen, dass die zuständigen Bundesorgane außerstande sind, die notwendigen Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr zu treffen und ihrerseits zu handeln, sprich: den Untersuchungsgefangenen, der die deutsche Gesellschaft und die Welt wie Geiseln in Angst und Schrecken hält, unverzüglich anzuklagen und ein Todesurteil herbeizuführen«.
Und in der Zeitung erschien eine ziselierte Betrachtung über Helden und Weltherrscher. »Jedes Jahr feiern wir die Hitler-Attentäter als Helden«, hieß es da. »Das impliziert die Annahme, dass ein Mensch, der Tod über sehr viele Menschen bringt, aufgrund eines privaten Beschlusses getötet werden darf. Im Zweiten Weltkrieg starben immerhin 55 Millionen Menschen infolge der Entscheidung eines einzelnen Diktators. Im Rückblick erscheint uns die Billigung eines Attentats leicht vertretbar. Umso eher, als sie niemandem gelungen ist. Hitler scheint einen sechsten Sinn für Gefahren gehabt zu haben oder er hatte stets unverschämtes Glück. Auch der Tod von Pol Pot hätte vermutlich vielen Kambodschanern, nämlich knapp 2 Millionen, das Leben gerettet. Über Osama bin Ladens Tod hat sich sogar unsere Bundeskanzlerin unverhohlen gefreut. Bei der bisher bekannten Art organisierten Massenmordes sind die Täter Diktatoren, Feldherren, Terroristen, mächtige Männer, gegen deren totale Macht der Einzelne, der Attentäter, antritt und sein Leben riskiert. Das erscheint uns nicht nur heldenhaft, sondern sogar moralisch geboten. Doch hier und heute haben wir es mit einem Mann zu tun, der ohne gesellschaftlichen Rückhalt, ohne Macht oder Selbstbestimmungsrecht in einem Gefängnis sitzt. Ihn zu töten ist nicht tapfer. Es nützt auch nichts, dass die Boulevard-Medien ihn zu einem Ungeheuer stilisieren, zu einem Hexenmeister, gar dem Satan persönlich. Wobei sie uns freilich den letzten Beweis schuldig bleiben. Genauso wie ihn uns die Justiz schuldig bleibt. Psi – das haben wir alle in den letzten Wochen und Monaten lernen müssen – hinterlässt keine Spuren. Es ist keine Kraft, die man zum Absender zurückverfolgen könnte. Einen Channeler kann man nicht orten wie ein Handy. Ergo wäre seine Tötung nicht viel mehr als eine Hinrichtung ohne Gerichtsurteil, ein Meucheln aus allgemeiner Angst und Teufelsgläubigkeit heraus, und wir wären als Gesellschaft zurückgefallen in die Zeiten der Hexenverbrennungen, in denen der böse Leumund das Todesurteil sprach.«
Am selben Tag, einem Freitag, fiel in Stuttgart nach einem Gewitter zur abendlichen Hauptverkehrszeit das Ampelleitsystem aus und alle standen stundenlang im Stau. Leider waren an diesem Tag besonders viele im Auto unterwegs, weil außerdem der öffentliche Nahverkehr bestreikt wurde. Eigentlich eine Bagatelle, aber Michael Strohberg schrie am Sonntag unter meinem Fenster: »Wir sind mit unserer Geduld am Ende!«
Er rechnete vor, dass ein Häftling den Steuerzahler pro Tag 62 Euro koste, das seien 22 600 Euro im Jahr. Dem stünden, so Strohberg, Ausgaben pro Schüler im Jahr von nur 4700 Euro gegenüber. »Sind uns unsere Schulkinder und ihre Zukunft weniger wert als diejenigen, die unserer Gesellschaft durch Egoismus und Gewalt schaden?«, rief er. »Schickt ihn auf eine einsame Insel, sag ich. Isoliert ihn. Schneidet ihn ab von Internet und Telefon. Werft alle zwei Wochen Nahrung und Medikamente zu ihm hinab. Wenn er den Hubschrauber zum Absturz bringt, dann schneidet er sich nur ins eigene Fleisch. Vielleicht kommt er dann endlich zur Besinnung. Unsere Geduld ist erschöpft!«
Daraufhin stürmten zwanzig junge Kerle über ein Fenster die Staatsanwaltschaft, traten Türen ein, rissen Computer von den Tischen, Telefone aus den Wänden, warfen Akten aus den Fenstern und sprühten mit schwarzer Farbe »Korrupte Bande« und »Mörder!« an die
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