Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Wort, Lisa.«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach Richard. »Aber können wir sicher sein, dass dieser Raum nicht abgehört wird?«
Keiner antwortete.
»Wenn ich einst bei meinen Reisen in die DDR etwas Wichtiges zu besprechen hatte«, fuhr Richard im defensiven Plauderton fort, »bin ich mit meinen Freunden hinaus in den Wald gegangen, weit weg vom Haus.«
Merkel nickte. »Es ist eine schöne laue Nacht, meine Herren.«
Medwedew blickte etwas verkniffen drein. Aber auf Obamas Gesicht flackerte Abenteuerlust.
Ich holte Cipión aus unserem Zimmer, und wir taten so, als wollten wir uns im Park unter dunklen Bäumen Richtung See die Beine vertreten. Obama schnorrte bei Richard eine Zigarette. Merkel fragte nach dem Rorschach-Test in der Psychologie. »Das ist doch dieser Klecksbildertest?«
»Ja«, antwortete Derya. »Aber er hat nichts mit Rorschach zu tun, also dem Ort hier. Übrigens auch der Wartegg-Test nicht, bei dem der Proband Linien zu Zeichnungen ergänzen muss. Sie sind nach ihren Erfindern benannt, einem Schweizer aus Zürich und einem Leipziger.«
Was für ein Zufall!
Und jetzt diese Geiselnahme. Was für eine Generalversammlung des Bösen. Und ich spazierte mit einem Friedensnobelpreisträger ohne Frieden, einem Juristen, der die Opposition von unfreien Gerichten nach Sibirien schicken ließ, und einer Physikerin ohne Sinn für Wahrscheinlichkeitsrechnung durch die Nacht. Warum sollte ich denen eine Idee schenken? Lassen wir es doch kippen, das System ihrer Macht. Was interessiert mich der Umsatzrückgang bei den Flug- und Kreuzfahrtgesellschaften?
Der Parkweg endete an einer schmalen Straße. Sie führte durch eine schummrige Bahnunterführung mit Graffiti auf die Ausfallstraße. Rechts funzelte verlassen eine Tankstelle, ihr gegenüber standen dunkle Gebäude eines Jachthafens. Es hätte weiter drüben sogar einen Zebrastreifen gegeben, aber die Staats- und Regierungschefs überquerten die Straße wie kopflose Hühner.
Im Grünstück auf der anderen Seite baute sich ein großes Schild vor uns auf. »Bei Einbruch der Dämmerung haben Badegäste und übrige Personen die Anlage zu verlassen«, lautete die Badeordnung Hörnlibuck. Vermutlich setzte man in der urdemokratischen Schweiz »Wegweisung und Busse bei Zuwiderhandlung« auch gegen russische und amerikanische Präsidenten durch.
Doch inzwischen hatten uns sechs Bodyguards eingeholt. Wer wollte uns da noch aufhalten? Übers golfkurz geschnittene Grün tappten wir bis zum in Stein gefassten Ufer der Bucht, wo zarte Wellen aus dem Dunkel anlandeten und sich mit kleinen Geräuschen brachen.
Während die Bodyguards dreier Staatschefs die Hörnlibuck weiträumig absicherten, erteilte Obama mir unter freiem Sternenhimmel noch einmal das Wort. »Sagen Sie uns, Lisa, was Sie sich ausgedacht haben.«
»Warum eigentlich, Barack?«
Richard zuckte zusammen. Nerz’sche Revoluzzerreflexe zur Unzeit.
»Because you can!«, antwortete der US -Präsident.
»Es soll Ihr Schaden nicht sein«, sagte der russische Präsident.
Ich holte tief Luft. »Wenn Sie glauben, dass ich von Ihnen oder irgendwem …«
Da sagte Richard: »Weil sich Kinder unter den Geiseln befinden, Lisa.«
Ja, richtig. Mein Gefüge fiel wieder ins Lot. Ich lasse mir von niemandem, auch nicht von diesen Demokratiedarstellern, die Peilung nehmen. Wer sich provozieren lässt, hat schon verloren. »Also gut.«
Wir rückten zur Verschwörung zusammen. »Wir hören, Lisa«, sagte Barack. Angela nickte, Dmitri steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Okay. Es sind schon etliche Menschen tot, die in einer bestimmten Beziehung zu Juri Katzenjacob gestanden haben. Acht insgesamt. Was diese Todesfälle unheimlich macht, ist die Tatsache, dass sie aussehen, als hätte es keine äußeren Einflüsse gegeben. Die Leute scheinen einfach so gestorben zu sein, durch eigene Hand, an einer Krankheit, durch ein Unwetter.«
Dmitri machte Miene, als sei dies für ihn nicht unheimlich, sondern selbstverständlich. Die Vergiftung des russischen Ex-Spions Litwinenko mit radioaktivem Polonium war seinerzeit allerdings nicht besonders unauffällig geschehen.
»So was gibt es wirklich«, ergänzte Finley. »Ich kenne Fälle, bei denen sich in einem Menschen urplötzlich der Gedanke festsetzt, dass er sterben wird. Manche sterben dann. Juri könnte durchaus die Fähigkeit haben, vor allem natürlich jetzt mit seiner Fama als Totdenker, bei bestimmten Menschen Angststress auszulösen, der mindestens in eine
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