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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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eroberten die Ethiker die Diskussion. »Wir sind nicht erpressbar!«, behauptete einer. »Wir lassen uns nicht von einer Horde fehlgeleiteter Fanatiker dazu verführen, unsere humanistischen Werte zu verraten!«
    »Auf eine Geiselnahme muss mit den Mitteln der Polizei geantwortet werden.«
    »Gibt es ein Ultimatum?«
    »Ja, es gibt ein Ultimatum«, ergriff der britische Premier das Wort. »Es endet Montagabend um Mitternacht.«
    »Nach unseren Informationen«, setzte der russische Bär hinzu, »sind sechs russische Staatsbürger unter den Geiseln. Es handelt sich um eine internationale Touristengruppe, die aus Bukarest zu einem Tagesausflug in dieses Kloster gefahren ist: ein US -Bürger, zwei Litauer, zwei Italiener, fünf Ungarn, zwei Polen und eine Schulklasse aus Tschechien. Aus dem Ort sind fünfzehn Kinder einer ersten Klasse, zwei Lehrer und zehn Erwachsene im Kloster. Es sollen insgesamt um die sechzig Menschen sein. Wir haben Rumänien bereits die Hilfe unserer Sicherheitskräfte angeboten.«
    Merkel zählte im Hinterkopf rasch die diplomatischen Verwicklungen durch, die anstanden, wenn man das Leben eines Untersuchungsgefangenen gegen das von Bürgern des halben ehemaligen Ostblocks abwog. Außer Russland und Polen war keines dieser Länder hier vertreten.
    »Könnten wir denn nicht schlüssig beweisen, dass Juri Katzenjacob keine übersinnlichen Fähigkeiten besitzt?«, fragte der Synergetiker Hermann Haken aus seinem weißen Bart heraus.
    »Wie beweist man, dass jemand keine Fähigkeiten hat, wenn man im umgekehrten Fall kaum beweisen könnte, dass er sie hat?«, sagte der Linguist Noam Chomsky. »Ist jemals bewiesen worden, dass Nina Kulagina Gegenstände bewegen konnte? Mr. McPierson, Sie haben sie gefilmt. Ich frage Sie: Gibt es den Beweis?«
    »Ich fürchte, nein«, antwortete Finley. »Viele meinen zwar, Unerklärbarkeit sei Beweis genug, aber den wissenschaftlichen Beweis, der auf Wiederholbarkeit basiert, gibt es in keinem Fall von Telekinese im makrophysikalischen Bereich. Was wir haben, ist eine sehr lange Reihe wunderlicher Fälle, die auch von meiner Zunft zuweilen mit großer erzählerischer Leidenschaft dargestellt werden. Entweder die Protagonisten sind längst verstorben oder es fehlt das Geld, die Phänomene und Agenten einer aufwändigen Prüfung zu unterziehen. Das Kalteneck-Experiment hat leider auch nichts dazu beigetragen, die Dinge klarer zu machen. Im Gegenteil! Es hat nur Illusionen geweckt und den Spinnern Hoffnungen gemacht.«
    »Aber in uns steckt unzweifelhaft ein großer Glaube an Synergien aller Lebewesen, Stoffe und Kräfte«, sagte Haken.
    »Und der erzeugt Realität«, ergänzte Chomsky. »Womöglich darf er als Beweis gelten. Wenn wir unsere Mythen, Märchen und Legenden betrachten, so sehen wir unser Erzählen geprägt von der tiefen Überzeugung, dass der menschliche Geist Teil des allgemeinen Weltgeschehens ist, von ihm beeinflusst wird und es beeinflusst.«
    »Ja, man könnte schon denken«, sagte Finley, »was so mächtig in den Strukturen unseres Denkens verankert ist, muss seine Entsprechung in der Realität haben, deren Teil wir sind. Aber …«
    »Ja dann«, entfuhr es mir, »dann zaubern wir Katzenjacob halt einfach weg.«
    Auf einmal war es mucksmäuschenstill. Ja, zum Teufel, seit wann hörte man mir zu? Ich bin doch nur eine kleine Genderakrobatin.
    Finley begriff sofort und nickte.
    »Wie genau lautet Ihr Vorschlag, Ms. Nörz?«, erkundigte sich Obama aufmerksam.
    Ich holte Luft, aber Richard streifte meine Hand mit seiner und raunte mir kaum hörbar zu: »Nicht vor allen.«
    Er hatte recht, aber was verlangte er von mir? Wie sagte ich den anwesenden Hallodris der Macht, dass es besser ist, wenn sie nicht wissen, was ich mir denke?
    »Ja, also … ich würde doch gerne vorher noch …«
    Der Oberstaatsanwalt sprang mir mit dem ganzen Gewicht seiner eindeutigen Männlichkeit bei. »Wir bitten darum, uns kurz im kleinsten Kreis beraten zu dürfen.«
    Merkel hatte es längst verstanden. »Dann kommen Sie mal mit«, sagte sie und bahnte uns einen Weg hinaus.
    Das Hotelpersonal führte uns in einen kleinen Raum mit Büchern und Ausblick über die Bäume hinweg auf das von Ufergeglitzer gesäumte schwarze Nichts des Bodensees. Wir saßen noch nicht, da erschienen auch Obama und Medwedew. Wie sie es geschafft hatten, die anderen Wichtigheimer diplomatisch wegzubeißen, blieb für mich im Dunkeln.
    Obama schlug seine langen Beine übereinander. »Sie haben das

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