Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
wegen vehementer Kritik und Zweifeln an seiner Eignung gekippt worden war. Nur mühsam fand Richard den Ton, um sich für das in ihn gesetzte Vertrauen zu bedanken und sich Bedenkzeit auszubitten.
Was es da zu bedenken gebe?
Es gab nichts mehr zu bedenken. Aber für den Generalstaatsanwalt mussten Argumente gefunden und ausgesprochen werden. Der Vorwurf, er habe Beschuldigte unter Druck gesetzt und sei in die Abhöraffäre um die Burg Kalteneck verwickelt, werde immer hervorgeholt werden, sobald sein Name fiel. Er sei angeschlagen nach der Pressekampagne.
Der General resignierte aus Respekt und schrieb, wie Richard durchaus registrierte, den Mangel an Begeisterung bei seinem Untergebenen der Anspannung zu.
Als es dunkel wurde, stand Richard allein in dem kleinen Raum, den er sich für zwei Tage als Büro im abhörsicheren Betonkeller der Stuttgarter Staatsanwaltschaft eingerichtet hatte, und fütterte den Aktenvernichter.
Roswita Kallweit hatte er nach Hause geschickt. In all den Jahren, die er sie kannte, war sie eigentlich nur aus ihrem Tran erwacht, wenn es um Katzen ging. Dann konnte sie spitze Schreie ausstoßen. Doch jetzt hatte sie sich als effiziente Organisatorin erwiesen, die ihm zur richtigen Zeit Telefonnummern zugeschoben und ihn an Termine und Verabredungen erinnert hatte, ohne an ihre gesetzliche Arbeitszeit zu denken. Vielleicht lag es daran, dass sie die Operation »Katze« genannt hatten.
Wie der Trick genau aussah, an dem Finley in Berlin arbeitete, würde Richard erst morgen erfahren. Aber ob er gelang oder nicht, das hatte an diesem Dienstagabend schon keine Bedeutung mehr. Letztlich würde es auf Dauer ohnehin nicht geheim zu halten sein, auch wenn Finley sein Team bei allen Göttern und Müttern absolute Verschwiegenheit hatte schwören lassen. Vermutlich hatte er zusätzlich jedem Einzelnen mit der Verdammnis zum soziokulturellen Tod gedroht, falls er jemals auf die Idee kommen sollte, ein Buch zu schreiben oder zu plaudern.
Richard sehnte sich mehr denn je nach einer ehrlichen Lösung: das Eingeständnis des Staates, in dem er lebte und leben wollte, dass man das Dilemma nicht lösen könne. Wir liefern niemanden in den sicheren Tod aus. Wir töten nicht. Die Geiselnahme in Sambata de Sus war ein Verbrechen, das als solches von Sicherheitskräften bekämpft werden musste. Auch wenn ihm selbst der Gedanke unerträglich war, dass eine Geisel, womöglich ein Kind, starb.
Darum gab es im Grunde nur eine einzige Lösung. Sie war genauso undenkbar, und dennoch war es ganz einfach, sie zu denken. Es war das Selbstverständlichste der Welt. Nur besprechen würde er sie nicht dürfen, auch mit mir nicht. Ja, vor allem nicht mit mir.
Der Impuls wurde übermächtig in ihm, über die Straße zu gehen, die Treppen zu mir hinaufzueilen – immer zwei Stufen auf einmal –, mit seinem Schlüssel meine Wohnungstür aufzuschließen, sich von Cipións Begrüßungspanik anfallen zu lassen. Ein Glücksschauer lief ihm über den Rücken, als er an die Wiederaufnahme der Routine dachte: der Kaffee, die Kabbelei, bis ich endlich an seine Knöpfe langte.
Warum war er mir eigentlich so böse gewesen? Er verstand es nicht mehr. Wie hatte es passieren können, dass Derya den Kompass seiner Sinne derartig aus der Peilung hatte bringen können? Sie war schön, intelligent und kultiviert. Doch die Begleitumstände langweilten ihn schon jetzt: das Drama ihrer Entscheidung für ihn, ihre romantischen Erwartungen, die Unterhaltungen über gemeinsamen Urlaub, Zukunftspläne, Blumen, Liebesbeweise. Der weibliche Gedankenapparat aus Gefühlen, Sehnsüchten, Unsicherheiten und Ansprüchen interessierte ihn nicht und würde auf Dauer den Reiz des Neuen zunichtemachen. Und für ein Projekt, das nach anderthalb Jahren ausgereizt sein und in Wiederkehr erlahmen würde, eine Beziehung aufzugeben, die ihn immer wieder reizte – im guten wie im ärgerlichen Sinn –, schien ihm unklug.
Er stoppte sich: unnötige Gedanken. Es war zu spät. Und ihn drückte die Blase.
Da klingelte das Telefon auf dem Tisch. Es meldete sich Prälat Georg Gänswein, Privatsekretär von Papst Benedikt dem Sechzehnten, um ihm mitzuteilen, dass Seine Heiligkeit der Bitte um eine telefonische Audienz in Anbetracht der Umstände, wie sie ihm vom Freiburger Erzbischof und Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Zollitsch, geschildert worden seien, nunmehr entspreche. »Ich verbinde.«
Kurze Totenstille, dann schnarrte einer:
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