Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
sich die Welt, um sich eines Alptraums zu entledigen.
Am andern Morgen wachten wir mit der guten Nachricht auf, dass die Geiselnehmer von Sambata de Sus ihr Ultimatum auf Donnerstagabend verlängert hatten, um, wie es in einer im Internet veröffentlichten Erklärung hieß, dem Westen und den deutschen Behörden Gelegenheit zu geben, die notwendigen organisatorischen Maßnahmen zu ergreifen, um Katzenjacob entweder nach Rumänien zu bringen oder aber selbst eine endgültige Lösung herbeizuführen.
Schön, dachte ich. Wir haben also Zeit.
Die Fernsehsender taten, was sie immer tun, wenn ihnen die Eilmeldungen ausgehen, weil sich die Lage nicht ändert. Sie filmten Volk. In diesem Fall rumänische Menschen, die Fäuste reckten und »Tod dem Katzenjacob!« schrien. Einige erklärten, dass sie die Aktion der Geiselnehmer richtig und notwendig fanden. Ich weiß inzwischen, dass sie dafür von dem Reporter, der die Aufnahmen drehen ließ, Geld bekommen hatten.
Später las ich in einem Dossier des Guten Tags mit dem Titel Die Kalteneck-Verschwörung , dass es Spitz auf Knopf gestanden habe. Man habe bereits einem älteren Dorfbewohner die Pistole ins Genick gehalten, als in letzter Minute ein Telefonat von US -Präsident Obama persönlich die Geiselnehmer bewegen konnte, ihr Ultimatum zu verlängern. Obama habe dabei nicht nur auf die Langsamkeit der deutschen Demokratie mit ihrer unabhängigen Justiz verwiesen, sondern vor allem auch durchblicken lassen, dass die USA ebenfalls an einer endgültigen Lösung des Problems Katzenjacob interessiert seien.
Ein Politologe verstieg sich zu der These, die Weltmächte hätten ein großes Interesse daran haben müssen, diesen einen zu beseitigen, der im Rückblick als der Kristallisationskeim einer sich zur Pandemie auswachsenden Massenunruhe erscheine. »Mit schwarzen Armbinden hat es begonnen. Einmal auf den Geschmack gekommen, versammelten sich bei jeder Gelegenheit nie gesehene Menschenmassen auf den Straßen, um gegen alles und jedes zu protestieren: in Israel gegen den sozialen Absturz der Mittelschicht, in den USA gegen die Finanzmärkte, in Griechenland für die Drachme, in Spanien gegen Jugendarbeitslosigkeit, in Großbritannien gegen Reichtum, nicht zu reden von den Protesten gegen die Diktaturen in Libyen, Syrien und im Jemen.«
Die Aktion der neun Geiselnehmer sei exzellent vorbereitet gewesen, schrieb der Gute Tag Monate später in seinem Dossier. So habe man im Vorfeld Nahrung und Wasser für zwei Wochen ins Kloster geschafft, um von einer Versorgung von außen unabhängig zu sein. Sogar ein eigener Internetanschluss sei gelegt worden, damit die Geiselnehmer die Medien verfolgen konnten und die Hoheit über die Information behielten. Dies lege den Verdacht sehr nahe, die Aktion sei vom rumänischen Geheimdienst, der bekanntlich von der Mafia unterwandert sei, durchgeführt, zumindest aber gesteuert worden. Und zwar aus wirtschaftlichen Gründen. Denn seit Auflösung der berüchtigten Securitate leide der Geheimdienst an Geldmangel. Deshalb betreibe er seit Mitte der neunziger Jahre über Strohmänner aus der Vorgängerorganisation Hotels, Busunternehmen, Autowerkstätten, Fabriken und zwei rumänische Fluggesellschaften. Und nicht nur der Tourismus, sondern vor allem die Fluggesellschaften hätten ja bekanntlich wegen der grassierenden Flugangst drastische Einbußen hinnehmen müssen. Der Serviciul român de informa ţ ii stehe deshalb vor der Pleite.
Aber ob ich das nun alles so glauben will …
*
Am Nachmittag unterbrachen alle Sender ihr Programm, um mitzuteilen, dass Katzenjacobs Haftprüfungstermin für morgen, Mittwoch, angesetzt war.
In diesem Augenblick wurde Richard schlagartig klar: Die Aussage von Juri Katzenjacob konnte nicht der Wahrheit entsprechen. Sie enthielt einen entscheidenden Fehler. Er schaute sich noch einmal meine Aufnahme von Katzenjacobs Einlassung an, die ich ihm auf einem USB -Stick überlassen hatte. Aber eigentlich war es nicht nötig.
Da war es auf einmal der völlig falsche Moment, dass der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Richard zu sich einbestellte. Der General hatte offenbar wieder mal das Bedürfnis, dabei zu sein, indem er sich wenigstens unterrichten ließ. Am besten, Richard brachte es gleich hinter sich.
Beinahe hätte er laut herausgelacht, als der General ihm eröffnete, dass er ihn, Richard, für das Amt des Generalbundesanwalts vorschlagen werde, nachdem LO StA Krautter als Kandidat des Bundesjustizministeriums
Weitere Kostenlose Bücher