Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Überwachungskameras in der Abfertigungshalle des Stuttgarter Flughafens vom Freitag, dem 29 . Januar an. Die hatte ihr einer vom Sicherheitsdienst überlassen, der auf keinen Fall genannt werden wollte. Unser Problem war: Wir fanden Derya Barzani nicht.
66
Mit Cipión im Rucksack stand ich um sechs auf dem Flughafen. Nur Richard war nicht da. Als man uns zum Boarding aufrief, erreichte ich ihn immerhin auf dem Handy. Er hatte verschlafen, saß aber im Taxi. In letzter Minute kam er angehastet, zwar ordentlich im Anzug, aber ohne Krawatte. Die hing ihm aus der Jackentasche. Er befand sich in einer Zwischenwelt: zu müde zum Schlafen, zu aufgekratzt, um sich lebendig zu fühlen. Und ich sah ihm sofort an, dass er entschlossen war, etwas vor mir zu verbergen.
»Schrecklich, das mit der Geisel«, bemerkte ich. Die Nachrichten hatten zwar am Morgen gemeldet, der Mann sei vermutlich an einem Herzinfarkt verstorben, bevor die Kugel ihn traf, aber das Signal war eindeutig: Lasst Katzenjacob nicht frei. »Und du hast die halbe Nacht herumtelefoniert, oder?«
»Stell dir vor«, sagte er in erzwungenem Plauderton, als wir uns in der Businessklasse anschnallten, »ich habe gestern sogar mit Papst Benedikt dem Sechzehnten telefoniert.«
»Oh! Und?«
»Er ist sehr verliebt.«
»Wie bitte?«
»In Jesus Christus. Was denkst du denn? Eine ziemlich homoerotische Angelegenheit, wenn ich es recht bedenke.«
Ich bekreuzigte mich. »Sag das niemals laut, Richard! Andererseits hab ich in meiner Jugend Maria geliebt. Sie stand in Holz geschnitzt mit milchprallen Brüsten auf meiner Kommode.«
»Ihr Katholiken versteht es halt, hintenrum auf eure Kosten zu kommen.«
»Während ihr Pietisten vorzeitig an Moralinübersäuerung sterbt!«
Darauf antwortete er nicht mehr. Von einem Moment zum andern versank er in Schweigen, stellte zwischen sich und mir eine Wand mit dem Schild auf: Frag mich nicht!
Wir starteten in den Sonnenaufgang. Cipión schaute aus seinem Rucksack vorwurfsvoll herauf. Das immerhin bemerkte Richard und streckte die Hand aus, um ihn hinter den Ohren zu kraulen.
»Was von Derya gehört?«, erkundigte ich mich.
»Warum?«
»Richard, das ist eine ganz einfache Frage. Sie heuchelt Interesse, darauf antwortet man mit einer belanglosen Information. Beispielsweise könntest du mir sagen, wann die Beerdigung ist, was mir völlig am Arsch vorbeigeht. So was nennt sich Gespräch.«
»Am Montag«, antwortete er. »Und wenn es dich nicht interessiert, warum fragst du?«
Himmel, Arsch! Ich verlor den Spaß. »Was bist’n so empfindlich?«
»Tut mir leid. Ich habe heute Nacht, wenn es hochkommt, zwei Stunden geschlafen. Ich hatte Verschiedenes zu … zu ordnen.«
»Zu ordnen?«
An dieser Stelle hätte er mir verraten können, dass er, kurz bevor der Papst anrief, Derya aus seiner Zukunft verabschiedet hatte und zu mir zurückgekehrt war, aber wahrscheinlich nahm er an, ich wüsste es: Für den Schwaben ist gedacht so gut wie geschwätzt.
Und im Grunde war es längst nicht mehr sein Thema. Doch das wurde mir erst später klar. Im Moment war ich viel zu sehr damit beschäftigt, die Tür zu ihm zu suchen.
»Ich habe gestern stundenlang Filme aus Überwachungskameras von der Schalterhalle am Flughafen angeschaut.«
Er reagierte automatisch. »Wo hast du die her?«
»Vom Freund einer Freundin aus Facebook. Ich hatte sie schon vor Wochen gefragt, ob sie an die Filme rankommt.«
»Warum?«
»Nur so. Jedenfalls ist mir aufgefallen, dass Derya nirgendwo zu sehen ist. Sie ist am Freitag, als Rosenfeld starb, definitiv nicht nach Berlin zu ihrem Freund geflogen.«
Richard schloss die Augen und sagte nichts.
»Ihr Alibi ist falsch.«
Er entklebte mühsam seine Lider. »Die Polizei hat ihr Alibi überprüft. Das tun die routinemäßig. Ich nehme an, sie haben die Passagierliste eingesehen.«
»Menschen machen Fehler. Und in diesem Fall besonders, denn er ist verhext. Hast du es dem alten kurzatmigen Groschenkamp wirklich zugetraut, dass er einem trekkinggestählten Mann eine Schere ins Herz rammt? Und worüber hätte er sich dermaßen mit Rosenfeld zoffen sollen? Über Geld? Nein, Richard. Es war Derya. Und ihr Vater ist gekommen, um sie aus dem Schlamassel zu holen.«
»Und was für ein Motiv sollte sie gehabt haben?«
»Sie hat entdeckt, dass ihr Chef mit Desirée gepimpert hat. Vielleicht hat das Sonnenscheinchen mit ihrer Schwangerschaft herumgeprahlt, während Derya noch davon ausging, dass Rosenfeld und sie das
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