Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
dann sind sie ganz blind.«
»Es ist der falsche Zeitpunkt für Aufklärung, Lisa. Ich weiß nicht, wie wir mit unseren Kräften anders verhindern könnten, dass in Sambata de Sus Geiseln getötet werden.«
»Vielleicht töten sie nicht.«
»Und wenn doch?«
Gegen halb zwei schüttelte ich erneut der Generalbundesanwältin die Hand. »Gibt es etwas Neues?«, erkundigte sie sich.
»Nichts Neues«, antwortete Richard. »Neun Personen, acht Männer und eine Frau aus dem transsilvanischen Ort Viestea de Sus, halten in Sambata de Sus 59 Menschen in ihrer Gewalt, darunter 31 Schulkinder. Sie haben das Gelände rund ums Kloster vermint. Einer von ihnen trägt ständig den Funkauslöser für die Sprengladungen in der Hand. Dieser Auslöser wird in unregelmäßiger Folge an andere weitergegeben, so dass die Sicherheitskräfte nie wissen können, wer ihn gerade hat. Die Rumänen haben jetzt immerhin britische, russische und zwei US -Spezialisten ins Land gelassen.«
»Es ist ein furchtbares Dilemma. Das Verfassungsgericht soll jetzt ein Gutachten erstellen, ob unser Rechtssystem unter solchen Umständen die Auslieferung erlauben würde. Aber wie soll das gehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Und das Ultimatum … endet es wirklich heute um Mitternacht?«
»Ich habe keine anderslautenden Informationen. Aber vielleicht können wir Bewegung in die Sache bringen. Wir haben neue Hinweise auf die Täterschaft im Fall Rosenfeld.«
Ich berichtete der Generalbundesanwältin und einem herbeigerufenen Bundesanwalt von Juris Aussage und meinen Recherchen. Meine illegale Kameraaufzeichnung von Juris Aussage erwähnte ich dabei natürlich nicht. Richard schlug vor, ein paar Hamburger Beamte in Groschenkamps Villa zu schicken, damit sie die infrage kommenden Schlüssel an sich nahmen, die dann so schnell wie möglich nach Holzgerlingen verbracht werden sollten. »Groschenkamps Tochter, Frau Dr. Barzani, hält sich in seiner Villa auf. Ich rufe sie an. Sie wird die Beamten ohne Beschluss einlassen.«
So wurde es gemacht.
65
Die Geiselnahme war wie nicht anders zu erwarten Aufmacher der Tagesschau . Ich sah das weiße Geviert des Klosters hinter den Bergen in sanften Wiesen, belagert von Militärfahrzeugen, Polizeiwagen und Pressefahrzeugen mit Satellitenschüsseln. Ein Reporter in schusssicherer Weste berichtete von dramatischen Szenen – Eltern der gefangenen Kinder schrien und weinten – und einer Zuspitzung der Lage. Man habe am Nachmittag auch Schüsse gehört. Derzeit herrsche Unklarheit, ob eine Geisel erschossen worden sei. Es liefen fieberhafte Verhandlungen, um das Ultimatum zu verlängern, denn man höre aus Deutschland, dass es im Fall Katzenjacob möglicherweise eine neue Wendung gebe. Dann meldeten sie den Tod von Oiger Groschenkamp. Und danach kam der Bericht von einer eilig am Abend einberufenen Pressekonferenz der Bundesanwaltschaft. Der Beamte, mit dem ich am Mittag gesprochen hatte, verlas eine Erklärung. Darin hieß es, aus neuen Indizien und Zeugenaussagen ergebe sich im Tötungsdelikt Rosenfeld ein dringender Tatverdacht gegen den heute verstorbenen Unternehmer Oiger Groschenkamp. Obgleich weitere Ermittlungen notwendig seien, um den Verdacht zu erhärten, scheine es der Bundesanwaltschaft in Anbetracht der derzeit aufgeheizten Atmosphäre dringend geboten klarzustellen, dass gegen den Beschuldigten Juri Katzenjacob kein hinreichender Tatverdacht mehr bestehe, ursächlich für den gewaltsamen Tod von Professor Rosenfeld am 29 . Januar dieses Jahres verantwortlich zu sein.
Juris Verteidiger, Lothar Nöthen, hatte man auch noch irgendwo in Sankt Pauli am Eingang zu einem Revuetheater abgepasst, wo er mit leicht verwunderter und gleichzeitig triumphierender Miene in die Kamera sagte, er sei froh, dass sein Mandant vom Vorwurf des Mordes entlastet sei, und hoffe, dass allenthalben wieder Vernunft in die öffentliche Diskussion einkehre. Er werde umgehend die Entlassung seines Mandanten aus der Untersuchungshaft beantragen und gehe davon aus, dass der zuständige Richter bereits morgen, spätestens aber übermorgen darüber entscheide.
Ich bin absolut sicher, dass Richard den zuständigen Richter genau in diesen Minuten ins Gebet nahm. Eine für die Öffentlichkeit unauffälligere Möglichkeit gab es nicht, Juri Katzenjacob bis Donnerstag aus dem Gefängnis zu kriegen und nach Berlin zu schaffen, wo er verschwinden würde. Es wunderte mich nicht einmal. Es fügte sich eben eins ins andere, als verschwöre
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