Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
Fähigkeiten zu besitzen.«
»Aber er besitzt sie nicht!«, vergewisserte sich eine Frau mit grauer Haartolle, die ihr in die Stirn hing.
Richard nickte wieder nur. Seine Biologie neben mir atmete, als nerve dies alles seinen Verstand fürchterlich.
Der Blick der Haartolle traf mich. Der bestimmte Blick, etwas zu lang für einen unter Frauen. Hi, Schwester, grüßte ich zurück. Soso!
»Ich glaube schon, dass es Dinge gibt, die wir mit unseren wissenschaftlichen Methoden nicht erfassen können«, sagte ein blondes Mädchen am Tisch.
»Dies ist doch eine Diskussion um des Kaisers Bart!«, trötete ein anderer tadelnd. »Schauen Sie sich die Hysterie draußen im Lande an! Wer das gesehen und erlebt hat und weitermacht wie bisher, hat seinen Beruf als Politiker verfehlt.«
Was wollte er damit sagen? Egal. Es gibt in jeder Runde einen, auf den niemand mehr hört.
»Warum nehmen wir diesen Kerl nicht einfach wieder fest?«, nuschelte einer, der statt der menschlichen eine gekochte Rinderzunge im Mund zu haben schien. »Gefahr im Verzug.«
»Was würde das nützen?«, fragte Richard zurück.
Begriffsstutzigkeit.
»Das Problem, das wir haben«, zwang sich Richard auszuführen, »ist doch entstanden, weil der Bursche im Gefängnis sitzt und die Leute glauben, er holt von dort mit geistiger Kraft Flugzeuge vom Himmel. Es ist also völlig wurscht, wo er ist. Eine Festsetzung würde uns keinen Vorteil verschaffen.«
Allgemeines Zurücklehnen.
»Aber es ist für uns von Vorteil, wenn er hierherkommt. Katzenjacob wird vom Moment seiner Freilassung an lückenlos überwacht. Wir werden immer wissen, wo er sich aufhält. Wenn er den Papst sehen will, wird er sich in einer großen Menschenmenge befinden.«
Mehr sagte er nicht. Ich rätselte. Worauf wollte er hinaus? Einige am Tisch verstanden ihn unweigerlich so, als deute er die Möglichkeit einer finalen geheimdienstlichen Aktion aus der Anonymität der Menge heraus an. Aber ich kannte Richard. Er erwog niemals das Töten als Möglichkeit zur Lösung eines Problems.
»Und wenn er nichts tut?«, sagte der Minister mit der gekochten Rinderzunge im Mund. »Dann kann die Polizei nicht zuschlagen. Es würde ja auch nichts nützen. Dann säße er nur wieder im Gefängnis. Verstehe. Man müsste …« Er brach ebenfalls ab. »Oder tut er was, fuchtelt er mit den Armen, stößt er Flüche aus?«
Richard zuckte mit den Achseln.
Ein bisschen weniger maulfaul hatte ich mir einen Sitzungshengst wie ihn in Aktion schon vorgestellt. Konferenzen bestreiten war sein Tagesgeschäft, verhandeln, überzeugen und manipulieren. Doch offenbar war es hier nicht wichtig oder nicht nötig.
»Aber wenn er doch völlig harmlos ist?«, fragte das Mädchen anklagend.
Plötzlich spürte ich Richards Anspannung in meinem eigenen Körper. Es zerriss ihn schier. Ich hatte das krasse Gefühl, dass er kurz davor stand auszurasten. Oder vor Ekel zu kotzen über den Anspruch dieses gemütlichen Haufens, alles, was er für sich längst geklärt hatte, noch einmal durchzukauen. Ich zog die Möglichkeit in Erwägung, dass Richard am Ende war, dass er nicht mehr konnte.
»Wenn wir nun einen Unschuldigen verfolgen!« Die Erkenntnis schien das Mädchen überraschend zu treffen.
»Das ist …«, Richard räusperte sich, »… nicht die Frage, Frau Ministerin. Es ist leider so, dass weltweit Millionen Menschen glauben, er bedrohe uns, er bedrohe den Papst. Ja, es ist absurd!« Er atmete aus. »Wir müssen uns zur eigenen Schande eingestehen, dass es uns nicht gelungen ist, dem Spuk, der uns nun schon über ein halbes Jahr in Atem hält, Einhalt zu gebieten. Und jetzt zeigt sich, wie gefährlich es ist, wenn man irrationalen Vorstellungen und abstrusen Ängsten freien Lauf lässt. Wir haben den Demagogen und den Medien das Feld überlassen. Vielleicht wollten wir es so. Es war uns gerade recht, hat es doch von anderem, was politisch wichtig gewesen wäre, abgelenkt.«
Unwillige Unruhe lief um den Tisch.
»Ja, wir waren zu schwach, den Wahnvorstellungen und Halbwahrheiten den unerbittlichen Geist der Aufklärung entgegenzusetzen. Und nun …« Er hustete. »… leiden in Rumänien Kinder, Frauen und Männer Todesangst, weil ein paar Irre meinen, sie müssten …« Die Stimme versagte ihm.
Peinlich berührtes Schweigen.
Ich musste was tun.
»Aber haben nicht Sie selbst, Herr Dr. Weber, uns«, hob vom anderen Ende die Schwester mit der Haartolle wieder an, »in einer Talkshow, die ich als denkwürdig
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