Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
sechsköpfigen Team viele Stunden und Tage verbracht, aber das ist niemandem aufgefallen.«
»Vermutlich habe ich es beim Eintreten im Schein einer unserer Lampen aufscheinen sehen und mich intuitiv genau dorthin gestellt«, überlegte Richard auf der Suche nach Plausibilität. »Dann habe ich mir gewissermaßen selbst einen Schubs gegeben, damit ich mich umdrehe und es aus der Nähe besehe.«
»Jeese!«, rief Finley. »Das ist aber mal eine schlaue Erklärung. Sie können sofort bei mir anheuern.«
Richard lächelte nachsichtig.
Da endlich sah ich es. Nicht verwunderlich, dass es Richard aufgefallen war. Es war ein Quadrat aus zwei Winkeln mit dem Diagonalstrich im Innern, identisch mit dem Zeichen der Anstecknadel aus Rosenfelds Schreibtisch.
»Bedeutet das was?«, fragte ich.
Finley rückte seine Brille zurecht. »Rosenkreuzer!«
Richard wandte sich dem Professor zu. »Ich habe zufällig an derselben Universität studiert, nämlich in Tübingen, wie der Urheber der Rosenkreuzer-Legende, der protestantische Theologe und Mathematiker Johann Valentin Andreae. Der war höchstwahrscheinlich auch der Verfasser der Rosenkreuzer-Schrift, 1614 erschienen, die an alle Gelehrten und Könige Europas gerichtet war. Sie trug den Titel Allgemeine und General Reformation der gantzen weiten Welt .«
Finley pfiff durch die Zähne. Cipión stellte die Ohren.
»Hui!«, machte ich. »Kleiner geht es nicht?«
Richard wandte sich wieder der Wand zu. »Aber dieses Motiv hier erinnert nicht im Geringsten an eine Rose.«
Der Schotte lachte vergnügt. »Ich ordne alle enigmatischen Zeichen den Rosenkreuzern zu. Das passt fast immer.«
»Das heißt, wir sind jetzt bei den Freimaurern angelangt!«, sagte ich. Rosenkreuzer und Freimaurer waren Männerkram, zudem historischer, davon hatte ich nullinger Peilung.
»Nun ja«, sagte Richard. »Die Freimaurergilden sind natürlich wesentlich älter als die Rosenkreuzer.«
»Da weiß ich auch was!«, rief Finley. »Die Großloge von Schottland ist schon 936 in York zusammengetreten. Daher reden wir heute vom York-Ritus. Hierzu gehört freilich das Sinnbild der Rose.«
»Vielleicht ein altes keltisches Motiv, ein Ornament«, schlug Derya vor.
Ich kramte mein Handy hervor, um zwei Fotos zu machen, solange der Schein der Lämpchen auf dem Bild ruhte. Es sah ganz solide aus, nicht wie kürzlich mit einem Schweizer Messer hineingeritzt. Richard rieb mit dem Finger den Schmutz aus einer Kerbe und setzte seine Lesebrille auf, um nah heranzugehen. Dann nahm er die Brille wieder ab. »Sieht alt aus. Aber ich fürchte, um das wirklich zu beurteilen, müssten Fachleute her.«
»Um Lisas Frage noch mal aufzunehmen«, sagte Finley, »bedeutet es etwas für Sie, Richard?«
Noch nie war es mir untergekommen, dass ein Mann, der die gleiche Frage stellte wie ich, zugab, dass er sie von mir geklaut hatte.
Richard antwortete nicht. Stattdessen trat er zurück, schaute sich mit Touristenmiene um und fragte: »Gibt es hier sonst noch etwas, Finley, oder könnten wir wieder …«
»Oh ja, lasst uns raus an die Luft!«, stimmte Derya mit ein.
»Gefällt es euch nicht?« Ein bisschen Enttäuschung ließ Finley durchblitzen. »Aber gut. Von unseren Versuchen kann ich auch auf dem Rückweg …«
Da ging das Licht aus.
Keine Panik. Wir hatten ja unsere vier Leuchtchen. Nur nicht auf Cipión treten! Den Boden sah man nämlich nicht. LED s streuen nicht. Ich wünschte mir, ich hätte auf mein Handy die Taschenlampen-App geladen. Hatte ich aber nie. Und Richard neigte sowieso nicht zu solchen Spielereien. Aber keine Sorge, mir waren auf dem Herweg keine Abgründe im Boden aufgefallen.
Richard blickte sich nach Derya um. Finley und ich gingen voran. Cipión zog röchelnd vorneweg.
»Was waren das für Versuche, die Sie hier gemacht haben?«, erkundigte ich mich, um Finley aufzumuntern.
»Oh, wunderschöne Versuche, Lisa. Ihnen hätten sie bestimmt Spaß gemacht. Es wäre interessant, wie Sie reagiert hätten. Wir wollten herausfinden, welchen Anteil das menschliche Nervensystem an Geistererscheinungen hat.«
»Es gaukelt sie uns vor?«
»Exakt!«
Derya japste. Wir fuhren herum. »Bin nur gestolpert«, sagte sie. Richard hatte sie am Ellbogen gefasst, während sie im Schein seines Lämpchens mit dem Fuß nach einem ihrer erst am Nachmittag erstandenen Pumps angelte. »Alles okay!« Doch ihre Stimme zitterte leicht. »Die Luft ist furchtbar!«
Finley wandte sich wieder nach vorn, um den Weg
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