Totenstimmung
man ihn rasch identifiziert. Er hatte früher in solchen Situationen scherzhaft gemeint: »Ich laufe offenbar mit einem Blaulicht auf dem Kopf herum.«
Nun schloss die Dunkelheit ihn ein. Zuerst ließ sie ihm seine angespannte Ruhe, dann begann sie sich mit stetig steigendem Druck auf seine Lunge zu legen, verfestigte sich mit jedem seiner Atemzüge zu einer erstickenden Enge, die ihn luftdicht abzuschließen drohte wie feiner Treibsand und ihm zunehmend Blitze vor die Augen trieb.
Heinz-Jürgen Schrievers versuchte, gleichmäßig zu atmen, aber je ruhiger er seine Atemzüge in immer gleichem Rhythmus tat, umso größer wurde sein Verlangen, kurz und heftig zu atmen. Er wusste, dass die Aussicht auf Erleichterung trog. Er wusste, dass jedes unkontrollierte Atmen ihn nur seinem Ersticken ein Stück näher brachte.
Er musste an Gertrud denken. Er sah ihr Lachen, er sah ihre Hände, die zärtlich über seine Wangen strichen. Sie berührten kaum seine Haut und waren doch so intensiv. Könnte er nur das Klebeband zur Seite drücken, damit sie mehr Platz bekämen! Er wollte ihr zurufen, nicht nachzulassen. Aber er brachte nur ein Gurgeln zustande, das hinter dem verklebten Mund ungehört versickerte.
Sein Stöhnen war wie der trockene Anschlag der Basssaiten einer Harfe: ein dunkel perlender Ton, der sofort von ungezählten Staubpartikeln auf ewig verschluckt wurde.
Die Angst hatte sich auf Heinz-Jürgen Schrievers gelegt, und der Archivar hatte nicht die geringste Chance, ihr auch nur einen Millimeter auszuweichen. Sosehr er sich anstrengte, nun war auch das Bild seiner geliebten Gertrud vor seinem inneren Auge verschwunden. Da gab es nur noch schwarzes Schweigen.
Seine Beine begannen zu zittern, erst leicht und dann immer stärker. Das Wasser. Er versuchte, seine Muskeln unter Kontrolle zu bekommen, aber der Tonus ließ ihm keine Chance. Er hatte das Gefühl, viele Kilometer über seine Kraft hinaus gelaufen zu sein. Er konnte seine Beine nicht still halten. Das Wasser war kalt. Es reichte bis knapp über seine Waden. Er musste schon seit Stunden so verharren! Vielleicht waren es aber auch nur wenige Minuten. Er konnte sich nicht erinnern. Er versuchte sein Denken auszublenden, einfach nur da zu sein, zu existieren, ohne Gefühle, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Das war seine einzige Chance gegen diese Folter.
Schmerzen empfand er nicht mehr.
Das Zittern in seinen Beinen hörte irgendwann auf. Dafür bekam er Schüttelfrost. Der Schüttelfrost wurde zunehmend zu einem Krampf, der seinen Körper bis in die letzte Faser hinein umklammert hielt.
»Junger Mann.«
Polizeioberkommissar Volker Bader drehte sich zu der resoluten Stimme in seinem Rücken um.
»Mein Neffe ist nicht gekommen.« Die alte Frau hob ihren Stock und zeigte auf den Wagen. »Ich will einsteigen.«
Bader hob erstaunt die Augenbrauen und sah sich verstohlen um: Da stand wie aus dem Nichts dieses Mütterchen in Kittelschürze und mit zerknittertem Hütchen vor ihm. Das sah verdammt nach »versteckter Kamera« aus.
»Haben Sie mich nicht verstanden, junger Mann? Das ist doch Ihr Auto, oder?«
Die Seniorin trat einen Schritt vor, Volker Bader automatisch einen Schritt zurück. Dabei stieß er mit dem Rücken gegen die geöffnete Tür des Streifenwagens.
Der Polizist war immer noch perplex. Was wollte die Alte von ihm? Er stand auf dem Marienplatz, um der Drogenszene zu signalisieren, dass man sie im Auge hat, mit einer alten Frau hatte er nicht gerechnet. »Was? Sie können hier nicht einfach einsteigen. Das ist doch kein Taxi.«
Die Frau stand jetzt dicht vor ihm. Volker Bader konnte in ihre dunklen Augen sehen, die überhaupt nicht zu dem runzligen Gesicht mit den unzähligen Altersflecken passen wollten, so jung und angriffslustig ruhten sie auf ihm.
»Ich weiß, was ein Streifenwagen und was ein Taxi ist, ich bin doch nicht senil. Ich will zu Ihnen aufs Revier. Ich will eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
»Eine Vermisstenanzeige?« Volker Bader war erleichtert, also doch keine »versteckte Kamera«. Mit älteren Damen, die etwas vermissen, wusste er umzugehen. Er lächelte die alte Frau an. »Ihr Neffe, sagten Sie?«
»Endlich, jetzt hat er’s auch kapiert.« Die Frau versuchte Bader mit ihrem Gehstock zur Seite zu drücken. »Können wir?«
»Er ist weg?«
»Mittwochs kommt er immer zum Essen. Da kann passieren, was will. Und heute ist Freitag, und ich habe immer noch nichts von ihm gehört. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Ich
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