Totenstimmung
Container. Es geht um meinen Neffen. Ich mache eine Vermisstenmeldung. Das verstehen Sie doch?« Die Seniorin klang spöttisch und ungehalten zugleich.
»Liebe Frau Eßers, ich habe doch nur sagen wollen, dass wir uns kennen. Wir haben uns schon einmal unterhalten.« Frank versuchte freundlich zu bleiben. Ausgerechnet er hatte jetzt die Alte am Hals. Wo war Ecki abgeblieben?
»Hören Sie, junger Mann. Ich bin zwar alt, aber nicht blöd. Natürlich haben wir uns über die Puppe unterhalten.« Johanna Eßers schüttelte ungläubig den Kopf. Was ging nur in diesem Kommissar vor? Der war offensichtlich überarbeitet.
»Hendrik Jennes ist also Ihr Neffe?«
»Hören Sie, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«
Frank ignorierte den Vorwurf. Stattdessen lächelte er. »Sie kochen für ihn? Haben Sie viel zu tun? Ich meine, Ihr Neffe ist viel unterwegs.«
Johanna Eßers schien ein wenig versöhnt. Sie zupfte an ihrem streng frisierten Haar. »Das geht gerade noch. Ich bin nämlich nicht mehr so gut zu Fuß. Aber für Hendrik reicht es allemal.« Sie wollte keinen Zweifel daran lassen, dass sie noch lange nicht ins Altenheim gehörte.
»Er ist viel im Ausland, nicht wahr?«
Sie nickte. »Ich habe ihm das schon so oft gesagt. Er soll seinen Möbelhandel aufgeben. Er kann mit dem Restaurieren genug verdienen. Er ist doch alleine.«
»Keine Frau oder Freundin?«
Jennes’ Tante sah bekümmert aus. »Es gab da mal jemanden. Ein nettes und fleißiges Mädchen. Aber das ist lange her.« Sie seufzte bei dem Gedanken. »Hendrik hat sie verlassen. Er ist lieber alleine, glaube ich.«
»Hat er sie denn nicht geliebt?«
»Für Renate war es schlimm, glaube ich. Aber Hendrik kann sehr hart sein, wenn es sein muss. Auch gegen sich selbst.« Johanna Eßers seufzte erneut.
»Seither lebt Hendrik allein?«
»Leider.« Die Seniorin sah aus wie eine Mutter, die am Ende vergeblich um das Glück ihres Kindes gekämpft hat.
»Hat Ihr Neffe Kontakt zu Behinderten?«
Die Seniorin sah Frank erstaunt an. »Ja, er arbeitet mit einer Werkstatt zusammen. Zauberhafte Menschen.«
»Was meinen Sie?«
»Hendrik hat mich einmal mitgenommen. Die Menschen dort machten einen glücklichen Eindruck.«
»Bekommt Ihr Neffe schon mal Besuch von Behinderten? Oder trifft er sich anderswo mit Ihnen?«
Johanna Eßers schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich bin nie bei ihm zu Hause. Hendrik kommt immer zu mir. Er liebt die Wohnung, sagt er. Wegen der Erinnerungen. Er ist als Kind oft bei uns gewesen. Er war ein glückliches Kind.«
Jennes’ Tante sah nicht so aus, als würde sie das auch über den erwachsenen Neffen sagen wollen.
»Wann waren Sie das letzte Mal in Hendriks Wohnung?«
»Das muss schon ein paar Jahre her sein. Er lebt ja sehr zurückgezogen. Das tut er sehr gerne.«
Das klingt wenig überzeugend, dachte Frank. »Sie machen sich Sorgen?«
»Welche Mutter täte das nicht? Ich bin zwar nur seine Tante, aber er ist wie ein Sohn für mich. Ich wünsche ihm so sehr ein glückliches Leben. Und nun ist er verschwunden.«
Frank verschwieg ihr, dass Jennes nur ein paar Meter weiter saß und auf seinen Anwalt und seine weitere Vernehmung wartete. Er hatte im Gegenteil das Gefühl, dass Johanna Eßers zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht war und er von ihr eine Menge über Jennes erfahren konnte.
»Haben Sie schon einmal miterlebt, dass Ihr Neffe nicht nur Möbel aus dem Osten bekommen hat? Dass vielleicht auch Menschen, behinderte Menschen, mitgekommen sind?« Vorsichtiger konnte er die Frage nicht formulieren.
Die Seniorin reagierte entsprechend ungehalten. »Haben Sie mich nicht verstanden? Was Hendrik beruflich macht, bekomme ich kaum mit. Finden Sie Hendrik endlich, dann können Sie ihn selbst fragen. Und«, Johanna Eßers stieß ihren Gehstock wie ein Ausrufezeichen hart auf den Linoleumboden, »Hendrik ist ein guter Junge. Er hat nichts angestellt. Ich verstehe das alles nicht. Ich bin gekommen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als mir solche merkwürdigen Fragen zu stellen. Ich habe das Gefühl, dass die Polizei auch nicht mehr das ist, was sie einmal war. Ich bin sehr enttäuscht, Herr Kommissar.«
Johanna Eßers machte Anstalten zu gehen.
»Warten Sie, ich habe nur noch ein paar Fragen an Sie.«
Die Seniorin machte einen unschlüssigen Eindruck. Sie blieb sitzen, stützte ihre Hände aber auf ihren Gehstock. Eine falsche Bemerkung, und sie würde
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