Totenstimmung
enthielt zu viel menschliches Schicksal, das sie an den Rand des Erträglichen bringen würde.
Mit dieser Haltung war sie bisher den Dämonen entkommen, die in ihr hockten und auf ihre Gelegenheit warteten. Bei Elvira klemmte ihr Selbstschutzmechanismus irgendwie.
Vorsichtig schlug sie die Aktendeckel auf.
Vom Gesicht der mongoloiden Frau war wenig geblieben. Nur die Augen: groß, grau, mandelförmig.
Carolina Guttat klappte den Aktendeckel wieder zu. Die übrigen Fotos ersparte sie sich. Die Augen genügten.
Die Bilder waren wieder da: dieses fragende Gesicht, das plötzlich aus dem Schatten der schwachen Lampe auftauchte, das scheue Lächeln, das unerwartete Zusammentreffen auf dem modrig riechenden Gang, das verlegene Sich-aneinander-vorbei-Drücken, als gäbe es diese Begegnung gar nicht, und dann doch der vorsichtige und neugierige Blick zurück.
Sie hatte nie nach dem Namen des Mädchens gefragt, niemandem von ihr erzählt. Es war so, als gäbe es dieses Kind nicht. Obwohl sie sich sicher war, dass das Mädchen im selben Haus wohnte, hatte sie immer gespürt, dass es in einer der Wohnungen einen blinden Fleck gab. Von dem sie außerdem wusste, dass man nicht darüber sprechen durfte.
Es waren die Augen, die sich tiefer in ihr Gedächtnis eingeprägt hatten, als sie dies für möglich gehalten hätte. Das gleiche runde Gesicht, graue Augen, der gleiche kindlich schüchterne, fragende Blick.
Die Augen der toten Elvira Theissen hatten sie deshalb so hart getroffen. Seither waren die Erinnerungen an ihre Kinderzeit, an den muffigen und düsteren Keller, in den sie oft geschickt worden war, um Kartoffeln zu holen, wieder präsent. Sie fühlte sich wieder wie die kleine Carolina, die sich vor dem Keller fürchtete.
Dazu kam jetzt das Gefühl, etwas gutmachen zu müssen an diesem zerbrechlichen Wesen aus der Vergangenheit, das ihr in der Gestalt von Elvira Theissen auf so unerwartete und grausame Weise wiederbegegnet zu sein schien.
Die Staatsanwältin strich sich durchs Haar. Sie fühlte sich hilflos, ein Zustand, der ihr völlig unbekannt war und der ihr Angst machte. Mit Alex hatte sie über ihre Albträume bisher nicht gesprochen. Er hätte sie wohl mit ein paar lockeren Sprüchen vom Tisch gewischt, aber das hätte ihr sicher nicht geholfen.
Carolina Guttat seufzte. Sie mussten endlich handeln, bevor die wenigen Spuren sich ganz verloren. Doch wo sollten sie ansetzen? Die Staatsanwältin stand auf und nahm ihre Tasse mit zum Fenster. Sie kippte den Rest Tee in einen der beiden Töpfe mit dem üppig wuchernden Bogenhanf.
Unten auf dem Bürgersteig ging der Vorsitzende der Jugend- und der Schwurgerichtskammer vorbei. Sie hob die Hand, aber Lothar Beckers sah sie nicht.
Entschlossen kehrte sie vom Fenster an ihren Schreibtisch zurück und wählte Frank Borschs Nummer.
»Carolina.« Frank hatte schlagartig ein schlechtes Gewissen. Er hätte ihr schon längst den aktuellen Stand berichten müssen. »Nein, nichts Neues. – So ist es. – Leider.« Frank schilderte ihr kurz Köllges’ »Ermittlungsergebnisse«. Carolina teilte seine Einschätzung, dass eine Überprüfung der Speditionen wenig Erfolgschancen hätte.
»Radermacher?« Franks Blick verdunkelte sich. »Das sehe ich genauso. Wir werden offiziell nach ihm fahnden. Theveßen soll eine Pressemitteilung fertigmachen. – Was? Natürlich wird das die Presse aufscheuchen. Richtig, sie werden uns vorwerfen, nichts zu tun. Aber das wird er denen schon verklickern.«
Nach dem Gespräch rief Frank gleich Theveßen an. »Warum wir nach ihm fahnden? Das muss die Presse nicht unbedingt wissen. Es reicht doch, dass wir ihn suchen.« Frank ärgerte sich. Theveßen musste wissen, dass die Ermittlungen sich in einem sensiblen Stadium befanden. Da musste man doch nicht mit Details hausieren gehen. »Natürlich weiß ich, wie die Presse arbeitet, Willy. Dann lass dir etwas einfallen. Du machst das schon.« Frank legte auf und fuhr seinen Rechner hoch.
Nach gut einer Stunde sah er auf die Uhr. Ecki war noch immer überfällig. Dabei hatte er sich »nur mal eben« mit Marion treffen wollen, um nebenan im größten Möbelhaus der Stadt nach einer neuen Esszimmereinrichtung zu gucken.
Ein neues Esszimmer! Frank seufzte. Ihm fiel ein, dass Lisa auf seinen Anruf wartete. Wegen ihrer Stühle, eines neuen Tischs, eines Schranks, und was ihr sonst noch bei ihren Besuchen in Jennes’ Lager begegnet war.
Frank wählte ihre Handynummer.
»Lisa? Du bist so schlecht zu
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