Totenstimmung
Das ist doch nicht gesund auf die Dauer.« Sie machte einen ratlosen Eindruck.
»Was meinen Sie genau?« Frank war bereit, das Spielchen für eine Weile mitzumachen.
»Er hat da dieses Manuskript. Er investiert unglaublich viel Zeit in diese fixe Idee. Sein Beruf leidet, unsere Beziehung leidet. Das kann nicht gut gehen auf die Dauer.«
»Was meinen Sie?« Frank dachte an die Aktenordner, die kartonweise in ihrer Dienststelle gelandet waren.
»Volker will so etwas wie ein Grundlagenwerk für die Forschung schreiben. Es geht ihm um eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Phänomens Behinderung. Er ist davon überzeugt, dass es so etwas nicht gibt und dass es unbedingt geschrieben werden muss. Worum es da geht, weiß ich nicht genau. Ich glaube, dass Volker im Augenblick über Behinderung und Kunst schreibt. Jedenfalls hat er sich Unmengen Literatur über das Thema besorgt.«
»Ist doch toll, dass Ihr Freund sich so für die Wissenschaft einsetzt.« Für Frank klang das Ganze ziemlich abstrus.
»Schon, aber die halbe Nacht hockt er über seinen Texten, und am anderen Tag geht er arbeiten. Irgendwann bricht er zusammen. Damit ist dann niemandem geholfen. Das Thema ist sicher ganz wichtig. Aber Volker wird daran zerbrechen. Dabei muss er mir nichts beweisen. Ich liebe ihn doch auch so.«
Frank hatte genug. »Um ehrlich zu sein, das klingt alles ein wenig konstruiert. Sie müssten doch froh sein, wenn die Vereinsarbeit wissenschaftlich begleitet wird. Sie müssten ihn doch eher unterstützen, statt ihm abzuraten.«
»Ich bin davon überzeugt, dass er sich mit dem Thema übernimmt, Herr Borsch. Volker ist ein exzellenter Praktiker, ich wünschte, ich hätte so viel Begabung im Umgang mit unseren Behinderten. Aber er ist kein Wissenschaftler. Er überschätzt sich.«
Frank drängte sich das Bild des manischen Wissenschaftlers auf, der für seine Forschung über Leichen geht. »Ich frage Sie noch einmal, wo ist Volker Radermacher?«
»Ich weiß es nicht!« Barbara Kemmerling kämpfte mit den Tränen.
Frank ließ sich davon nicht beeindrucken. »Volker glaubt, dass die Kunst die einzige Brücke zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderung ist.« Ihre Stimme bebte. »Wie viele Künstler sind über ihre Kunst verrückt geworden?«
»Es reicht, Frau Kemmerling, ich glaube Ihnen kein Wort. Wir kommen wieder. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Was denkst du?« Ecki lehnte an ihrem Dienstwagen.
»Ich glaub ihr kein Wort.«
»Und die Aktenordner und Fachbücher, die wir bei Radermacher gefunden haben?«
Frank schüttelte den Kopf. »Mag ja alles sein. Aber deswegen haben sie nicht gestritten, und deswegen ist Radermacher sicher nicht abgetaucht.«
»Und was machen wir nun?«
»Sie wird uns zu Radermacher führen. Ich werde eine Telefonüberwachung beantragen.«
»Dafür bekommst du keine Genehmigung. Du kennst Carolina.«
»Abwarten.«
»Wetten?«
»Gewinne ich, schuldest du mir eine CD . Ich weiß auch schon, welche: Danny Bryant’s Redeyeband, Black and White .«
Ecki seufzte. »Okay. Kriegst du die Genehmigung nicht, freue ich mich schon auf Andrea Bergs neue CD Zwischen Himmel und Erde . Nee, Augenblick, lieber Splitternackt . Von 2006, die fehlt mir noch.«
»Genau, das fehlte mir noch.« Frank stieg in den Wagen und drückte die Playtaste. We can work it out: die alte Beatles-Nummer, gesungen von Chris Farlowe. Gegen dessen kraftvoll soulige Interpretation konnte selbst KHK Michael Ecki Eckers nichts haben.
»Ich hab was für dich.« Schrievers schob Frank den aktuellen Pressespiegel über den Schreibtisch zu. Er hatte sich ungefragt auf Eckis Platz gesetzt, der überraschend einen Termin beim Orthopäden hatte.
Frank warf einen flüchtigen Blick auf die erste Seite.
»Dritte Seite«, sagte der Archivar und grinste.
Frank schlug die betreffende Meldung auf.
»Ja, und? Kann passieren. Künstlerpech.« Frank hütete sich, das Gewicht des Mannes zum Thema zu machen. Schrievers wartete garantiert nur auf eine entsprechende Bemerkung.
Der Archivar wollte gerade antworten, als nach einem undefinierbaren Rumpeln auf dem Flur die Tür zum Büro aufflog.
»Scheiß Krücken.« Jasmin Köllges schob sich in das Büro.
Nun wusste Frank, wer dem Dicken in Giesenkirchen im wahrsten Sinne unterlegen gewesen war.
»Was hast du denn gemacht?« Frank schob den Pressespiegel unauffällig unter einen Stapel Akten und sah seine Kollegin bedauernd an, die, ungewöhnlich genug, im Rock und auf blaue
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