Totenstimmung
Dingen konfrontiert zu werden. Wenn man Furchtbares laut ausspricht, öffnen sich beim Betroffenen oft neue, unerwartete Dimensionen. Schuldgefühl und Selbstverachtung sind nur zwei davon. – Wenn Sie eine Pause brauchen? Einen Kaffee vielleicht?«
Volker Radermacher sprang unvermittelt auf. Dabei fiel sein Stuhl polternd um. Schwitzend und keuchend stand der schwergewichtige Sozialarbeiter vor den beiden Ermittlern.
»Ich will hier raus! Das ist doch alles nicht wahr! Bin ich hier in einem Horrorfilm? Ich will gehen! Sofort! Sie unterstellen mir, pervers zu sein! Sie sind krank! Nicht ich! Sie sind ja von allen guten Geistern verlassen!«
Ecki war ebenfalls aufgesprungen und mit einem Satz bei Radermacher. Nachdem er den Stuhl wieder aufgestellt hatte, versuchte er, Radermacher zum Hinsetzen zu bringen. Vergeblich.
Radermacher schüttelte ihn ab wie ein lästiges Tier. Der Sozialarbeiter musste Bärenkräfte haben, die man ihm wegen seiner unsportlichen Figur niemals zugetraut hätte.
»Ich will hier weg!«
Frank kam seinem Freund zu Hilfe. Gemeinsam schafften sie es, Radermacher auf die Sitzfläche zu drücken. Im selben Augenblick schien seine Widerstandskraft gebrochen.
»Lassen Sie uns vernünftig miteinander reden.« Frank schlug einen beschwichtigenden Ton an.
»Lassen Sie mich gehen.« Radermacher klang matt.
»Das können wir nicht.«
»Ich habe Elvira nicht umgebracht. Und ich weiß auch nichts von einer anderen Frau. Ich bringe niemanden um, ich will Menschen helfen.« Er wimmerte mehr, als dass er sprach.
Ecki stand auf. »Während ich Ihnen einen Kaffee hole, können Sie ein bisschen zur Ruhe kommen.«
Ecki hatte kaum die Tür zum Vernehmungsraum hinter sich zugezogen, als Carolina Guttat auf ihn zutrat. Die Staatsanwältin hatte einen Teil der Vernehmung durch die verspiegelte Glasscheibe verfolgt.
»So kommt ihr nicht weiter. Radermacher so mit den Vorwürfen zu konfrontieren! Das grenzt an Nötigung. Wo hat Borsch sein Handwerk gelernt? Ich habe gedacht, er dreht gleich durch.«
Ecki versuchte abzuwiegeln. »Das war schon okay. Frank hat nur versucht, Radermacher aus der Reserve zu locken. Du darfst nicht vergessen, dass der Sozialarbeiter sämtliche Gesprächs- und Psychotricks draufhat. Der ist nicht so einfach zu knacken wie ein x-beliebiger Krimineller.«
Die Staatsanwältin schüttelte unwirsch ihr blondes Haar. »Das heißt noch lange nicht, dass er sich so gehen lassen kann.«
»Was Frank getan hat, war immer noch im Soll.« Ecki konnte die Staatsanwältin nicht verstehen. Carolina Guttat war doch sonst nicht so zimperlich.
»Ich habe nichts gesehen. Haben wir uns verstanden?« Sie legte ihre Hand auf Eckis Arm. »Wir dürfen uns keine Fehler erlauben. Gerade in diesem Fall nicht. Ich kann mich auf euch verlassen?«
»Keine Sorge. Wie lange können wir ihn hierbehalten?«
»Nur so lange wie nötig.«
Frank war erschöpft. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und rieb seine Augen. »Ein harter Hund.«
Ecki deutete auf die Kassette. »Wir gehen Satz für Satz noch einmal durch. Wir werden den Hebel finden, mit dem wir ihn von seinem Stuhl kippen können.«
»Wenn er unser Mann ist und sein Spiel mit uns spielen will, wird es hart werden.« Frank rieb sich die Wangen.
»Wir haben schon ganz andere geknackt.« Auch Ecki gähnte. Er würde gleich seinen PC herunterfahren und sich mit Marion treffen. Seine Frau wollte mit ihm nach Wassenberg. Dort gab es einen Werksverkauf für Polstermöbel.
»Ich bin mir da nicht so sicher. Ich muss die ganze Zeit daran denken, was Viola einmal gesagt hat.«
»Nämlich?« Ecki war jetzt hellwach. Viola war ein sensibles Thema, mehr denn je. Davon war er spätestens seit Franks Telefongespräch mit ihr überzeugt.
»Dass derart gestörte Täter nie aufhören zu töten. Sie nehmen sich höchstens eine Auszeit. Sie sind wie Minen, sie können jahrelang unentdeckt herumliegen und ihrer Umgebung das trügerische Gefühl von Sicherheit geben, doch dann gehen sie bei der kleinsten Berührung hoch.«
»Radermacher liegt noch warm und trocken. Und wir werden ihm den Zünder schon rausschrauben.«
»Und wenn er nicht der Täter ist?«
»Davon gehe ich nicht aus. So ziemlich alles spricht gegen ihn. Nicht mehr lange und wir haben ihn überführt.«
»Mal angenommen, es wäre jemand anderer. Dann hat derjenige uns in der Hand. Und das Schlimmste ist: Dieser Jemand kann der unscheinbare, nette Nachbar sein, ein liebenswerter Kollege,
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