Totenstimmung
hatte genug. Sie steckte ihren Ausweis zurück in ihre Jeansjacke. »Ihre Tachoscheibe, bitte.«
Schon gut zwei Stunden hatte die Polizeioberkommissarin im Gewühl aus ankommenden und abfahrenden Menschen zugebracht, hatte Fragen gestellt und als Anwort meist nur unverständige Blicke aus leeren Gesichtern geerntet. Sie hatte die Fahrer befragt, die ihre Fracht mit lauten Anweisungen aus ihren von der langen Fahrt schmutzigen Bussen hatten aussteigen lassen oder, mit Blick auf die Uhr, in die engen und staubigen Sitzreihen getrieben hatten. Auch sie hatten nicht viel mehr als müde Blicke für die junge Polizistin übrig.
Nun hatte Jasmin Köllges die Nase voll. Außerdem tat ihr Bein höllisch weh.
»Hören Sie«, der magenkrank wirkende Busfahrer war noch blasser geworden, »ich will keinen Ärger. Dürfen Sie das überhaupt? Sind Sie überhaupt im Dienst?« Er deutete mit seinem viel zu großen Kopf, der auf dürren Schultern saß, auf das Gipsbein der Kommissarin.
»Sie wollen gar nicht wissen, was ich noch alles kann.« Jasmin Köllges hob ihre Hand. »Die Tachoscheibe. Ich warte.«
»Ich will keinen Ärger. Ich habe nichts gemacht. Ich bin ordnungsgemäß gefahren. Außerdem muss ich wieder los. Ich muss meinen Fahrplan einhalten.«
Der Mann hatte Angst. Das spürte Jasmin Köllges deutlich.
»Dann haben Sie ja nichts zu befürchten. Also, wie steht es mit den Lenk- und Ruhezeiten? Alles im erlaubten Bereich? Oder haben Sie nicht so genau auf den Tacho geachtet? Herr …?«
»Janowitz, Franz Janowitz. Aus Breyell. Warten Sie. Was haben Sie gefragt?« Der Fahrer strich sich nervös über seinen Pullover mit Collegemuster.
Der Typ will nur Zeit schinden, dachte Jasmin Köllges. Andererseits hatten sie beide das gleiche Ziel: so schnell wie möglich diesen Ort verlassen.
»Fahren Sie die Route regelmäßig?«
»Gladbach – Warschau und zurück, ja.«
»Und der Bus ist jedes Mal voll?«
»Muss er, sonst lohnt es sich nicht. Die Konkurrenz ist zu groß.« Der Busfahrer entspannte sich langsam.
»Nehmen Sie oft Behinderte mit?«
Der Fahrer war auf die Frage nicht vorbereitet. Nervös fingerte er nach seiner Zigarettenpackung, die auf dem Armaturenbrett lag, das offenbar auch als Esstisch und Getränkelager diente.
»Ich bin kein Krankentransport, wenn Sie das meinen.«
»Ich meine Behinderte. Fahren regelmäßig Behinderte mit?«
Janowitz schüttelte langsam den Kopf, als brauche er Zeit, um sich mit dem Thema zu beschäftigen.
»Nein. Ist mir noch nicht aufgefallen, jedenfalls nicht, dass ich regelmäßig welche mitnehme.«
Dein Blick sagt etwas anderes, dachte die Kommissarin.
»Aber es ist auch schon vorgekommen?« Ihr Nacken begann zu schmerzen, denn sie stand immer noch am Seitenfenster des Busses und musste zu Janowitz aufschauen.
Der Fahrer steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch gegen die Frontscheibe des Busses. »Warum nicht? Ich befördere jeden, der den Fahrpreis zahlen kann.«
Jasmin hakte nach. »Und wenn Sie Behinderte gefahren haben, waren die dann in Begleitung oder alleine unterwegs?«
Janowitz rieb sich einen störenden Tabakkrümel von der Unterlippe, bevor er antwortete. »Wer schickt schon Behinderte alleine auf die Reise?« Er sah die Beamtin jetzt direkt an. »Was ist, wenn die hier im Bus einen Anfall kriegen? Womöglich alles vollkotzen oder schreien? Würden Sie so etwas wollen? Nee, ich denke, dass die immer in Begleitung waren. Soweit ich überhaupt schon mal welche mitgenommen habe.« Er lachte meckernd und begann zu husten.
»Sie wissen es nicht?«
»Wie? Ja, ja.« Er hustete in seine Faust.
Jasmin Köllges hatte das gleiche Gefühl wie bei den übrigen Busfahrern: Für ihre Fracht interessierten sie sich nicht. Sie hatten nur einen Blick für das Fahrgeld. Und für eine möglichst schnelle Tour.
Eine letzte Frage noch. »Sie fahren nur nach Warschau?«
Janowitz schien erstaunt. »Seit mehr als fünfzehn Jahren.«
»Ihre Fahrgäste sind ausschließlich Polen?«
»Wo denken Sie hin, junge Frau. Warschau ist ein riesiges Drehkreuz! Dort laufen die Busrouten aus dem gesamten Ostblock zusammen. Wer ein Visum hat und zahlen kann, den nehme ich mit. Seine Herkunft spielt für mich dabei keine Rolle. Der Rubel muss schließlich rollen. Ich will auch leben.« Er lächelte selbstgefällig.
Die Polizeioberkommissarin nickte müde und reichte ihre Visitenkarte durch das Schiebefenster. »Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, rufen Sie mich an. Es ist
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