Totentaenze
und damit rumgefahren bin.
»Aber warum sollte ich so etwas machen?«
Sie zupft an der Bettdecke rum, und als sie aufschaut, bin ich mir sicher, sie weiß, warum, will es mir aber nicht sagen. Schon früher hat sie immer, wenn sie mir etwas nicht sagen wollte, ihre Lippen leicht zusammengepresst, als wollte sie verhindern, dass etwas Verräterisches herausschlüpft.
Aber da ist noch etwas anderes in ihren Augen, etwas, das mir Angst macht. Habe ich ihr etwas angetan?
»Also Lina, warum habe ich das Auto genommen?«
Sie zögert einen Moment, dann nimmt sie meine Hand. »Na, wegen dem Foto.« Beißt sich sofort fest auf die Unterlippe.
»Was denn für ein Foto? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, und wenn ich gerade eines nicht brauchen kann, dann sind das Rätsel. Es würde mir viel mehr helfen, wenn du mir erzählen könntest, was wir getan haben, bevor ich das Auto genommen habe.«
Lina scheint erleichtert zu sein und tut mir den Gefallen. »Das Laub im Garten … wir haben Laub gerecht.«
Dann war das mit der Laubfrau also gar kein Traum, es hat sie wirklich gegeben. Und diese Gewissheit lässt plötzlich auch noch andere Bilder in mir aufsteigen. Der Schatz, der dort lag, ist das Handy, das ich gefunden habe, ich erinnere mich. Und das Reh, das Reh mit Maries Augen?
»Und Marie?«, frage ich.
»Was hat Marie denn damit zu tun?« Auf Linas Wangen sind plötzlich zwei kreisrunde knallrote Flecken.
»Ich weiß es auch nicht so genau. Kannst du sie fragen, ob sie mich besuchen kommen will?«
Lina ist aufgestanden. Ihre Augen schimmern so nass, als ob sie gleich weinen würde.
»Was ist denn los?«
Sie schiebt den Stuhl zum Tisch hinüber und geht zur Tür.
»Hey, was soll das denn, rede mit mir!«
»Das kann ich nicht!« Ich kann Linas Worte kaum verstehen, weil ihre Stimme nur noch ein heiseres Flüstern ist.
Dann ist sie weg.
Wie unfair! Ich liege hier und versuche, mich zu erinnern, versuche, mein Leben wieder zusammenzupuzzeln, und meine Schwester rennt einfach weg.
Die verschweigen mir doch alle etwas. Plötzlich wird mir schlagartig heiß. Was ist, wenn ich jemanden totgefahren habe?
Marie, warum sehe ich dauernd Marie vor mir? Ist Marie tot, habe ich etwas damit zu tun? Nein, unmöglich, das kann gar nicht sein. Niemals! Aber warum besucht sie mich nicht?
Warum weint Lina, wenn ich nach Marie frage? Ich habe ihr doch nie etwas erzählt. Wie auch, Lina würde nie kapieren, was mir an Marie gefällt. Die beiden sind einfach zu verschieden. Wären die beiden Blumen, wäre Lina eine prächtige feuerrote Gladiole und Marie ein Maiglöckchen. Wenn Lina das hören könnte, würde sie sicher meckern und behaupten, sie wäre eine Rose und Marie ein Kaktus. Lina ist laut, Marie ist leise, Lina weiß alles, Marie ist klug. Lieben tu ich sie beide, aber jede anders natürlich.
Je länger ich über Linas Flucht nachdenke, desto mulmiger wird mir. Ich muss mich verdammt noch mal besser erinnern. All diese Erinnerungsfetzen in die richtige Reihenfolge bringen.
Doch bevor ich damit auch nur anfangen kann, steht Mamas Psychologin vor mir, Klara-Luise Brönner-Schönlein, und will mit mir über alles reden. Am liebsten würde ich sie anschreien: »Was alles? Was, verdammt noch mal, meinen Sie mit alles?« Stattdessen schweige ich.
Sie ist gekränkt wegen meiner »Verweigerungshaltung« und ich wünschte, Lina wäre da, weil ich mit ihr herrliche Witze über diesen beleidigten Gesichtsausdruck machen könnte. Aber Lina ist ja einfach abgehauen, hat mich allein gelassen.
Und dann muss ich essen, was mir schwerfällt, weil mein Hals noch ganz wund ist von den Kanülen, die sie mir reingeschoben haben. Aber wenn ich nicht esse, gibt es wieder eine Standpauke der blonden Stationsschwester. Sie spricht mit polnischem Akzent, heißt Jana und könnte sofort als Supermodel arbeiten. Das klingt toll, aber wenn man so elend hier rumliegt, ist es einfach nur peinlich, wenn sie bei mir Fieber misst oder mich wäscht.
Also würge ich etwas Suppe hinunter und bin froh, als ich endlich offiziell schlafen darf.
Aber ich kann nicht schlafen, deshalb nehme ich einen Stift aus meinem Nachttisch und mangels Papier schreibe ich in das Buch, das hier herumliegt. Ein merkwürdiges altes Witzebuch.
Ich werde jetzt alles aufschreiben, was mir einfällt, und ich bin sicher, dann werde ich mich erinnern.
Als ich mir am nächsten Morgen mein wildes Gekritzel anschaue, muss ich enttäuscht feststellen, dass es nicht
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