Totentanz
sich ihm vor Jahren eingebrannt hatte. Eine derartige Kaltblütigkeit hätte er dieser Frau, die sich offensichtlich sehr sicher und ihm weit überlegen fühlte, nicht zugetraut. Weder ihr Äußeres, ihr Ton, ihr Aufreten hatten etwas mit der Tatjana Drakič zu tun, die er in Erinnerung hatte. Und auch Marietta war nichts aufgefallen. Vielleicht hätten sie die Sache früher durchschaut, wenn Sgubin noch dagewesen wäre. Jetzt aber zog sich die Schlinge zusammen. Um wessen Hals wußte allerdings auch Laurenti noch nicht mit Bestimmtheit zu sagen.
»Wenn ich den Staatsanwalt überzeugen kann, vergeht mindestens ein Tag, bevor eine richterliche Entscheidung vorliegt. Wir können nur hoffen, daß diese Frau nicht auf den Gedanken kommt abzuhauen. Pina, lassen Sie sie überwachen.«
*
»Das sind keine böswilligen Angriffe, sie verteidigen nur ihr Nest und die Jungen, nachdem sie geschlüpft sind. Selbst wenn sie dich picken, handelt es sich um keine ernsthaften Verletzungen. Ein Zwicken, ein kleiner Schnitt, mehr nicht. Ich mag diese schadenfrohen Gesellen.« Der alte Galvano hatte Laurenti auf der Straße erwischt. Sein Jackett wies auf der linken Schulter einen weißen Fleck auf, den er mit dem Taschentuch zu entfernen versuchte, während er eine flammende Rede auf die Möwen hielt, für die er offensichtlich mehr Mitgefühl aufbrachte als für seine Mitmenschen. »Die Möwen versuchen doch nur, uns zu vertreiben. Diese Tiere haben keine Angst mehr vor den Menschen, mit denen sie mittlerweile die Stadt teilen und von denen sie letztlich ihre Nahrung erhalten. Sie werden immer mehr und rücken uns folglich zunehmend auf die Pelle. Die aggressivsten nisten im Zentrum um die Piazza Sant’Antonio. Sie warten schon darauf, daß die Fischgeschäfte schließen, oder sie fressen den streunenden Katzen das Futter weg, das ihnen die betagten Witwen aus dem Viertel hinstellen. Das Meer als Nahrungsquelle ist zu anstrengend geworden. Überall in der Stadt finden sie schmackhaften Müll, den die Überflußgesellschaft zurückläßt. Selbst in Zeiten der Wirtschaftskrise. Sie haben inzwischen das Verhalten von Haustieren angenommen, klopfen sogar mit den Schnäbeln an die Fenster und verlangen Futter. Irgendwo müssen sie das schließlich gelernt haben. Die raffiniertesten nisten in Satellitenschüsseln, denn von dort können sie ihr Nest in alle Richtungen verteidigen.«
»Alle Achtung, Galvano«, lachte Laurenti. »Bist du mittlerweile als Veterinär tätig?«
»Wo gehst du hin?«
»Ich muß zum Staatsanwalt. Begleitest du mich ein Stück?«
»Bis zur ›Malabar‹. Keinen Schritt weiter«, sagte Galvano und zog den schwarzen Hund hinter sich her. »Ich habe heute früh deine Mitarbeiterin dabei beobachtet, wie sie mit dem Hausmeister stritt.«
»Ich weiß«, sagte Laurenti. »Im Versteckspiel bist du nicht besonders originell. Sie hat dich gesehen. Du lauertest wie ein Exhibitionist hinter einer Ecke, aber dein Hund saß auf der Straße.«
»Ich wollte, daß sie mich sieht. Der Kerl ist mir nicht geheuer. Man müßte sie vor ihm warnen.«
»Letzte Nacht wurde bei ihr eingebrochen. Sie ist ziemlich mit den Nerven runter. Warum wolltest du, daß sie dich sieht?«
»Damit sie endlich aufhört, mich zu verdächtigen.«
Laurentis Mobiltelefon klingelte. Marietta meldete, daß einer der beiden Männer, mit denen die Konsulin sich getroffen hatte, identifiziert war. Sie nannte ihm Namen und Wohnort sowie die Firma, für die er arbeitete. Ein Betrieb, der auf die Entsorgung von Sonderabfällen spezialisiert war. Laurenti bat Marietta, bei den Kollegen in Reggio-Emilia weitere Auskünfte zu besorgen. Es mußte doch endlich zu erfahren sein, welche Geschäfte Tatjana Drakič alias Petra Piskera betrieb.
Galvano spitzte die Ohren, als er den Namen der Konsulin hörte, und Laurenti faßte in wenigen Worten seine neuesten Erkenntnisse zusammen. »Und warum buchtest du sie nicht ein?«
»Bisher kann ich sie höchstens der illegalen Einreise beschuldigen und vielleicht noch der Benutzung einer falschen Identität.«
»Heißt sie Tatjana Drakič mit richtigem Namen oder Petra Piskera?« fragte Galvano und zündete sich eine Zigarette an, obwohl er sonst niemals auf der Straße rauchte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Laurenti verblüfft. »Ich dachte immer …«
»Denken, Laurenti, ist nicht jedermanns Sache«, blaffte Galvano und blieb auf der Ecke Via San Niccolò vor der lebensgroßen Bronzeskulptur des Dichters Umberto Saba
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