Totentöchter - Die dritte Generation
Aufruhr sorgen. Das ist dann deine Chance, da runterzufahren und ihn zu finden. Okay?« Sie streicht mir das Haar aus der Stirn. »Du wirst ihn finden, dann wirst du sehen, dass mit ihm alles in Ordnung ist.«
»Das würdest du tun?«, sage ich.
Sie lächelt und diesmal ähnelt sie auffallend der lächelnden Rose auf ihrem Sterbebett.
»Klar«, sagt sie. »Was habe ich zu verlieren?«
Wir sitzen eine Weile schweigend nebeneinander, während ihre Frage in meinem Kopf widerhallt. Was hat sie zu verlieren? Und wo genau war sie den ganzen Nachmittag – nachdem sie im Flur mit Vaughn zusammengestoßen ist? Damals auf dem Trampolin hat sie angedeutet, Angst zu haben, aber ich war nicht mutig genug, sie zu fragen, was sie damit meinte.
»Jenna«, sage ich, »was hat er mit dir gemacht?«
»Wer?«
»Du weißt, wer. Hausprinzipal Vaughn.«
»Nichts«, antwortet sie ein bisschen zu schnell. »Es
war so, wie ich gesagt habe. Er hat mich im Keller erwischt und mich wieder nach oben geschickt.«
»Du warst den ganzen Nachmittag weg«, sage ich. Sie sieht zu Boden und mit dem Finger hebe ich ihr Kinn. »Jenna.« Eine Sekunde lang erwidert sie meinen Blick. Eine schreckliche Sekunde. Ich kann den Schmerz in ihren Augen sehen. Ich kann sehen, dass etwas in ihr zerbrochen ist. Dann weicht sie zurück und steht auf.
»Und woher weißt du, was im Keller ist?«, frage ich und folge ihr zur Tür. »Du bist auch nur im Schutzraum gewesen. Woher weißt du von den Schutzanzügen und der Notfallkrankenstation?«
Jenna und ich haben eine stillschweigende Übereinkunft, Cecily aus allem herauszuhalten. Wir haben ein behütendes Auge auf sie, aber wegen ihrer Nähe zu Linden und Vaughn erzählen wir ihr nicht alles. Mir ist nie der Gedanke gekommen, dass Jenna auch Dinge vor mir geheim halten könnte. Doch jetzt denke ich, dass sie mir schon eine Weile etwas verschweigt. Sie bleibt auf ihrem Weg zur Tür stehen, sieht auf ihre Füße, nagt an ihrer Unterlippe. Ich höre die Stimme meines Bruders in meinem Kopf. Dein Problem ist, dass du zu gefühlsbetont bist .
Aber wie kann ich nicht gefühlsbetont sein, Rowan? Mir kann das alles doch nicht egal sein.
»Bitte«, sage ich.
»Es spielt keine Rolle«, sagt sie leise.
»Sag mir, was er gemacht hat«, schreie ich und vergesse, dass ich zuvor geflüstert habe. »Was hat er mit dir gemacht?«
»Nichts!«, schreit sie zurück. »Es ist das, was er mit dir
machen wird. Er weiß, dass du einmal versucht hast, wegzurennen, und er erwartet von mir, dass ich dich davon überzeuge, zu bleiben. Aber ich will dir helfen, also halt den Mund und lass mich!«
Ich bin so bestürzt, dass ich ihr nicht folge, als sie aus der Bibliothek stürmt und die Tür hinter sich zuschlägt.
Das Hologramm im Kamin zuckt.
Den Rest des Abends mache ich mir Sorgen. Deidre massiert mir die Schultern, scheint aber am Boden zerstört, weil ihre Bemühungen gar keine tröstliche Wirkung auf mich haben.
»Kann ich denn irgendetwas tun?«, fragt sie.
Einen Augenblick überlege ich, dann sage ich: »Könntest du jemanden heraufschicken, der mir die Nägel macht? Und vielleicht auch die Augenbrauen wachst? Vielleicht fühle ich mich besser, wenn was an meinem Aussehen getan wird.«
Deidre versichert mir, dass ich wunderschön aussehe, aber sie kommt meinem Wunsch gern nach. Ein paar Minuten später liege ich in warmem Wasser, während die plappernden Erstgenerationer mir eine Spülung ins Haar massieren und mir aus der Augenbrauenzone nicht nur die Haare, sondern auch die oberste Hautschicht entfernen. Es sind dieselben Frauen, die mich an meinem Hochzeitstag zurechtgemacht haben, und es ist eine Erleichterung, dass sie so sehr mit ihrem Tratsch beschäftigt sind, dass sie meinen Kummer nicht bemerken. Das erleichtert mir mein Vorhaben erheblich.
»Als wir uns das erste Mal begegnet sind, wolltet ihr wissen, ob meine Augen von Natur aus so sind«, sage ich.
»Kann man die Iris denn färben?« Das hört sich qualvoll und absurd an, aber während meiner Zeit hier hab ich schon seltsamere Dinge gesehen.
Die Frauen lachen.
»Natürlich nicht!«, sagt eine. »Nur Haare kann man färben. Die Augenfarbe verändert man mit Kontaktlinsen.«
»Kleine Dinger aus Plastik, die direkt aufs Auge gesetzt werden«, erklärt die andere.
Ich finde, das klingt genauso absurd wie Färben, aber ich frage: »Tut das weh?«
»Aber nein!«
»Gar nicht!«
»Haben wir Kontaktlinsen?«, frage ich. »Ich würde zu gern sehen, wie
Weitere Kostenlose Bücher