Totentöchter - Die dritte Generation
ein Kissen zu bringen. Sie fährt ihn nicht mal an, als er es ihr in den Rücken stopft.
Ich hoffe nach wie vor, Gabriel zu sehen, aber er ist nicht unter den Dienern, die uns das Abendessen servieren. Die Junibeere trage ich immer noch in meiner Tasche herum und sein Taschentuch steckt in meinem Kissenbezug. Ich hoffe, es geht ihm gut. Ich hoffe, ich höre bald von ihm.
Meine Sorge muss mir deutlich anzusehen sein, denn Vaughn fragt mich: »Ist auch alles in Ordnung, mein Liebling?« Und ich antworte, ich sei nur ein wenig müde, worauf Cecily sagt, sie wette, sie sei müder, und Jenna sagt gar nichts, was mir nur noch größere Sorgen bereitet.
Ich versuche dennoch, eine anregende Unterhaltung mit Linden in Gang zu halten, denn das ist das Mindeste,
was ich tun kann. Und Cecily gibt gelegentlich ihren Senf dazu und Jenna schiebt die gekochten Karotten mit der Gabel herum. Vaughn sagt ihr, sie solle etwas essen, und sein Ton ist trotz seines Lächelns so Furcht einflößend, dass sie es tut.
Nach dem Dessert werden wir zurück auf unsere Etage eskortiert. Cecily geht zu Bett, und ohne ein Wort ziehen Jenna und ich uns in einen entlegenen Gang der Bibliothek zurück.
»Du hast eine Schlüsselkarte bekommen«, sagt sie.
»Dank dir«, sage ich und denke an heute früh zurück, als ich zu ihr und Linden reingeplatzt bin. »Wie hast du ihn überzeugt?«
»Eigentlich war das gar nicht nötig«, sagt sie und streicht müßig mit dem Finger über die Buchrücken. »Die Absicht schien er bereits zu haben. Ich glaube, er brauchte nur einen kleinen Schubs. Es ist offensichtlich, dass ich nicht Erste Ehefrau werden will, und ich sterbe sowieso in einem Jahr.« Das sagt sie so beiläufig, dass es mir das Herz bricht. »Und Cecily mag uns ja alle überleben, aber die Verantwortung könnte sie niemals tragen. Und damit bleibst nur du und das habe ich ihm gesagt. Rhine, das steht dir zu. Du hast ihn schon davon überzeugt, dass du ihn anbetest. Du machst deine Sache so gut, dass ich beinahe selbst überzeugt bin.«
Meine Zuneigung für Linden ist nicht ganz und gar gespielt, aber ich weiß nicht, wie ich meine Gefühle für ihn erklären soll, wenn ich sie nicht einmal selbst verstehe. Deshalb sage ich nur: »Danke.«
»Aber hör zu, sei vorsichtig«, sagt sie auf ihre bedächtige Art und beugt sich nah zu mir. »Heute Nachmittag,
als du draußen warst, habe ich einen der Diener überredet, mir zu erzählen, wo Gabriel ist.«
»Was?«, sage ich. »Wo ist er? Geht es ihm gut? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ich habe es versucht«, sagt sie. »Als der Diener das Mittagessen gebracht hat, habe ich mich wieder beschwert, und während wir im Fahrstuhl waren, habe ich den Notknopf gedrückt, der einen in den Keller runterfahren lässt.«
»In den Keller«, sage ich und schlucke an dem Kloß in meinem Hals. »Warum wolltest du dorthin?«
»Da ist Gabriel auf unbestimmte Zeit im Einsatz«, sagt sie und sofort ist ihr Blick voller Mitleid. »Tut mir leid. Ich habe versucht, ihn zu finden. Aber sobald ich einen Fuß auf den Flur gesetzt hatte, bin ich mit Hausprinzipal Vaughn zusammengestoßen.«
Das ist ein Gefühl, als hätte man mir in den Magen getreten. Ich krümme mich, um Luft zu kriegen, und kauere schließlich auf dem Boden. »Da sitzt er meinetwegen fest«, sage ich.
»Das stimmt nicht.« Jenna kniet sich neben mich. »Und da unten sind eine Menge Räume. Der Schutzraum und die Notfallkrankenstation, das Stofflager der Aufwärter, Schränke voller Katastrophenschutzanzüge, medizinischem Gerät und Medikamente. Vielleicht bedeutet das gar nichts Schlimmes. Der Hausprinzipal organisiert die Angestellten hier doch immerzu neu.«
»Nein«, sage ich. »Es ist meine Schuld, das weiß ich.« Ich war zu leichtsinnig. Die Tür stand weit offen, als er mich geküsst hat. Weit offen! Wie konnte ich nur so dumm sein! Dieses Geräusch, das wir gehört haben,
war wahrscheinlich Vaughn, und bevor wir ihn entdecken konnten, ist er davongehuscht wie die Schlange, die er ist.
Jenna hält meine Faust fest, als ich auf den Boden einschlage. »Hör zu«, sagt sie. »Ich habe dem Hausprinzipal erzählt, dass ich mich verlaufen hätte, aber ich denke nicht, dass er mir geglaubt hat. Wahrscheinlich werde ich nicht mehr hinausgehen dürfen.«
»Das tut mir leid, Jenna …«
»Aber ich werde versuchen, ihn von dir abzulenken. Ich werde … Ich weiß auch nicht. Ich werde einen Anfall kriegen oder Cecily kriegt einen und das wird für
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