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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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die Pflichten eines Ehemannes seiner Frau gegenüber vervielfachen, wenn diese abgeschottet lebt. Eines jedenfalls hatte Eric ganz sicher nicht begriffen: Nur weil deine Ehefrau sicher zu Hause hockte, hieß das nicht, dass du dir jede Frau nehmen konntest, die dir über den Weg lief. Misyar-Ehe hin oder her, ein Ungläubiger durfte keine Muslimin heiraten.
    Am Abend zuvor war es ihnen nicht gelungen, den Benutzernamen und das Passwort zu knacken, mit denen die Dateien auf der Speicherkarte, die Miriam gefunden hatte, gesichert waren. Selbst Samir hatte es versucht, aber vergeblich. Da Miriam das einzige Gästezimmer in Samirs Haus belegt hatte, war Nayir schließlich doch noch zu seinem Boot zurückgefahren, nicht ohne ihr zuvor zu versprechen, dass er sie am nächsten Morgen ganz früh abholen würde, und seinem Onkel zuzuraunen, er solle auf sie aufpassen.
    Sein Wecker ließ den Ruf des Imam zum Gebet mit einer blechern elektronischen Stimme ertönen, die von Woche zu Woche dünner wurde. Er schaltete ihn aus, und als er ins Badezimmer ging, um seine Waschungen zu verrichten, erschallte aus den Lautsprechern des Jachthafens der reguläre Ruf. Er kniete sich zum Morgengebet mit einem tiefen Gefühl der Dankbarkeit nieder für die Gelegenheit, die Gedanken von seinen Sorgen zu lösen und sich höheren Dingen zuzuwenden. Er betete um Dinge, denen alles Belastende fehlte, um das Glück von Fremden, die Sicherheit von Reisenden, Gesundheit für ältere Menschen und noch einiges andere in dieser Art, und als er aufstand, waren vierzig Minuten vergangen, und er fühlte sich erquickt.
    Doch dieses Gefühl verflog schlagartig, als er nach oben ging und einen Mann auf dem Steg neben seinem Boot stehen sah.
    »Herr Sharqi?« Er klang freundlich, aber Nayirs Instinkte warnten ihn, dass der Fremde nichts Gutes im Schilde führte.
    »Ja«, sagte Nayir.
    »Ich bin Inspektor Osama Ibrahim«, erklärte der Mann. »Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«
    Nayir ging davon aus, dass ihm keine andere Wahl blieb. »Bitte kommen Sie an Bord«, sagte er und deutete auf die Rampe, die zum Boot führte.
    »Danke«, sagte Osama, »aber mir wäre lieber, Sie kommen mit mir.«
    So war das also. Er hätte es besser wissen müssen, als sich in etwas einzumischen, das ihn gar nichts anging. Ein jäher Zorn auf Katya erfasste ihn. Aber er hätte ihr diese Last gar nicht erst aufbürden und ihr nichts von Miriam erzählen sollen. Natürlich musste sie den Inspektor davon in Kenntnis setzen. Nayirs Hände waren schwitzig, als er sich auf die Rampe hievte und benommen auf den Steg trat. »Darf ich fragen, worum es geht?«
    »Ich bin sicher, das wissen Sie bereits«, sagte Osama in einem beängstigend höflichen Ton. Erst jetzt begriff Nayir, dass dieser Mann der Osama war, von dem Katya ständig redete, und noch während das in ihm die leise Hoffnung keimen ließ, dass man ihn nicht festnehmen und allzu übel verhören oder gar demütigen würde, wurde ihm zugleich etwas unangenehm bewusst: Katya hatte dem Inspektor verraten, wo Nayirs Boot lag, und ihm alles über den Misyar und Nayirs Versprechen, Miriam aufs Präsidium zu bringen, erzählt. Und vielleicht hatte Osama kein Vertrauen zu einem Fremden wie Nayir und war deshalb persönlich hergekommen, um die Dinge zu beschleunigen.
    Sie näherten sich gerade einem schwarzen Zivilwagen auf dem Hafenparkplatz, als Osama sagte: »Übrigens, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Erfolg im Fall Nouf Shrawi.«
    Nayir war verblüfft, brachte aber eine höfliche Antwort zustande. Er stieg in den Wagen, widerwillig dankbar dafür, dass es kein Streifenwagen war und seine Nachbarn nicht bemerken würden, dass er von der Polizei abgeholt wurde. Trotzdem fiel es ihm schwer, über Osama freundlich zu denken. Er war ein klassisch gut aussehender Mann mit gepflegtem Schnurrbart und sanften Augen. Er trug einen gut sitzenden Anzug und hatte ein professionelles Auftreten. Es waren die kleinen Dinge, die ihn arrogant wirken ließen: manikürte Fingernägel, goldene Armbanduhr. Das war der Mann, mit dem Katya arbeitete, der Mann, den sie jeden Tag sah, der Mann, der sie sah. Schon der Duft von Aftershave und Eau de Toilette, der von ihm herüberwehte, als die Wagentüren geschlossen waren, weckte Übelkeit in Nayir, aber die aufgesetzte Höflichkeit war die Krönung.
    »Wie ich höre, wissen Sie vielleicht, wo wir Miriam Walker finden können«, sagte Osama, legte den Gang ein und fuhr langsam los, als wartete er

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