Totenverse (German Edition)
Eric.
Auf einmal kam ein weiterer Mann ins Zimmer geschlendert. Er war groß und hatte dunkles Haar. Die Kamera fing sein Gesicht ein. Es war attraktiv, aber in seinen Augen lag etwas Gemeines. Die Männer sprachen englisch, und Katya verstand kein Wort, sondern sah nur, wie der Gesichtsausdruck des Dunkelhaarigen wechselte, als gefiele ihm etwas nicht. Schließlich starrte er direkt in die Kamera. Es war ein beunruhigender, lüsterner Blick.
Die DVD endete, und Katya nahm sie aus dem Laufwerk. Sie etikettierte sie mit einem Post-it-Zettel: Eric Walker. In den folgenden Stunden sah sie die anderen DVDs durch. Sie kam jetzt schneller voran, weil sie wusste, wonach sie suchte: nach den Amerikanern. Aber sie tauchten nicht wieder auf. Soweit sie das sagen konnte, gab es bloß diese beiden kurzen Szenen.
Als sie einige Stunden später erwachte, flackerte ihr Computermonitor immer noch. Zuletzt hatte sie sich keine DVDs mehr angeschaut, sondern online ferngesehen. Gerade lief eine Werbesendung für islamische Badeanzüge. Die Aqua-Burka! , verkündete der Sprecher. Die praktische Lösung für muslimische Frauen . Katya setzte sich auf, rieb sich den steifen Nacken und sah zwei Frauen am Strand in dreiteiligen Badeanzügen, die den gesamten Körper verdeckten. Die weiten Gewänder hatten bunte tropische Muster, die schwarzen Hosen waren eng, und der Neqab war eine schlichte Plastikhaube, die Haare und Hals bedeckte und ein Zugband ums Gesicht hatte, damit er im Wasser nicht abrutschte. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, so einen Anzug zu tragen, den der Sprecher als Burka-Bikini bezeichnete, auch Burkini genannt!
Monatelang hatte sie davon geträumt, mit Nayir segeln zu gehen, sich von ihm das Tauchen mit Sauerstoffflaschen beibringen zu lassen, einen Hai zu harpunieren. Die Vorstellung war gerade deshalb so herrlich, weil sie gut hätte Wirklichkeit werden können. Natürlich hätte er es gebilligt, er segelte und tauchte für sein Leben gern, und weit draußen auf dem Meer hätte kein Mensch sie gesehen, also hätte sie ungehindert schwimmen können. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass Nayir mit dem Burkini nicht einverstanden wäre. Er würde ihn als Ausdruck eines schalen Islam betrachten, der unechten Frömmigkeit, die inzwischen weit verbreitet war. Er würde jeder Frau in einem Burkini sagen, sie solle sich auf den Hadith besinnen, der das Tragen von körperbetonter Kleidung verbietet, basta.
Sie war nicht mehr müde. Stattdessen wallte eine gefährliche Energie in ihr hoch, die sich schon seit Tagen aufbaute und ihr jetzt, um zwei Uhr morgens, das Gefühl gab, als könnte sie allein ein ganzes Basketballspiel bestreiten. Oder die ganze Wohnung putzen. Oder sich endlich diesem Stapel Kartons widmen, der Aussteuer, die Othman ihr geschenkt hatte, ehe sie die Verlobung löste. Sie wusste nicht, was sie bislang daran gehindert hatte, die Sachen zurückzuschicken, aber jetzt machte sie sich mit Elan ans Werk, ging alles durch, faltete die Unterwäsche ordentlich zusammen, sortierte die Blusen nach Farben und packte sämtliche Kleider und Jacken und schimmernde Negligés wieder ein, klebte die Kartons fest zu und brachte sie hinaus in die Diele, wo sie ihren Vater und Ayman so lange stören würden, bis die beiden irgendwann von ihr verlangten, sie endlich wegzuschaffen.
32
Wohl zum tausendsten Mal lag Nayir kurz vor Sonnenaufgang wach im Bett und dachte über die Ehe nach. Vor allem, ob sie wirklich so schlimm war, wie es ihm manchmal vorkam. Er hatte eine lange Liste unglücklicher Freunde, die mit Frauen verheiratet waren, die sie piesackten und drangsalierten, ihr ganzes Geld vergeudeten, die weder kochten noch putzten, noch die Kinder anständig erzogen, die sich selbst vernachlässigten, hässlich und zahnlos wurden, depressiv oder gelangweilt, sogar selbstmordgefährdet. Und für diese lange Liste von unglücklichen Männern hatte er jetzt noch einen neuen Zusatz: die Geschichte von Miriam, deren Mann eine andere geheiratet und sie möglicherweise ermordet hatte und dann verschwunden war, während Miriam selbst an der Vorstellung festhielt, er sei völlig unschuldig. Er fragte sich, wie er sich nach etwas sehnen konnte, was doch so unendlich viele Schattenseiten hatte, die er ständig um sich herum sah.
Es war ihm kein Trost, dass auch die Amerikaner in der Ehe unglücklich waren, obwohl er in Erics Fall zu verstehen meinte, dass er nach Saudi-Arabien gekommen war, ohne zu begreifen, dass sich
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