Totenverse (German Edition)
für so was, und gerade die Polizei würde sich daran halten.
»Nein, alles in Ordnung«, sagte er rasch. »Ich hab nur nachgedacht.«
»Worüber?«
Nayir fiel keine passende Lüge ein, doch ein plötzliches Knistern im Funkgerät kam ihm zu Hilfe. Eine Männerstimme ertönte. Nayir verstand die seltsam verschlüsselte Sprache nicht, aber er sah, dass Osama beunruhigt war. Kurz darauf klingelte das Handy des Inspektors.
Osama ging ran, lauschte einen Moment und knurrte ein paarmal »ja« und »alles klar«. Sein Gesicht verriet jetzt deutliche Anspannung. Als er das Gespräch beendet hatte, trat er aufs Gas.
»Wir haben einen Notfall«, sagte er. »Ganz hier in der Nähe.«
»Was für einen Notfall?«, fragte Nayir.
»Häusliche Gewalt.« Osama schlingerte in eine scharfe Linkskurve, die Reifenspuren auf der Straße hinterließ. Sie kamen auf einen breiten Boulevard ohne viel Verkehr, und Osama gab Vollgas. »Die Ehefrauen eines Mannes versuchen, sich gegenseitig umzubringen.«
»Oh.«
»Eigentlich ist es ja haram , wenn ein Mann einen Streit zwischen Frauen beendet«, sagte Osama. »Wir haben Polizistinnen, die für solche Einsätze ausgebildet sind.«
»Warum fahren wir dann hin?«, fragte Nayir.
»Weil keine von diesen Kolleginnen derzeit Dienst hat. Hoffentlich gibt es nicht ein paar Tote mehr für die Mordkommission, bis wir da sind.«
Nayir wunderte sich. »Aber wenn es doch haram ist, warum hat man Sie dann verständigt?«, wollte er wissen.
»Ich hab der Notrufzentrale gesagt, die sollen mich in solchen Fällen verständigen. Es gibt nämlich nicht viele Polizisten, die bereit sind, sich da einzumischen. Nur ich und ein paar andere.«
»Aber wenn der Ehemann die Polizei angerufen hat«, sagte Nayir, »haben Sie doch offensichtlich seine Erlaubnis.«
Osama nickte. »Aber es bleibt haram und illegal und könnte mich meinen Job kosten.«
Er brauste auf einen großen Parkplatz vor einem hohen Mietshaus. Kurz bevor Osama aus dem Wagen sprang, sah er Nayir an und sagte: »Ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen, falls Sie dazu bereit wären.«
Nayir stieg ohne Zögern mit aus. In ihm tobte ein Chaos aus Angst und Schuldgefühlen und Trotz, während er Osama ins Gebäude folgte. Osama sagte über die Schulter: »Bleiben Sie einfach hinter mir und tun Sie, was ich Ihnen sage.«
Er hätte Osama gern gefragt, ob er eine Waffe hatte, und wenn ja, warum er sie nicht zückte. Nayir raste das Herz, obwohl er die starke Befürchtung hatte, das alles könne sehr peinlich enden. Die nächste Szene beruhigte ihn wieder. Osama trommelte gegen die Tür, und sie wurde unverzüglich von einem Mann geöffnet, der in hektischer Panik sechs weinende Kinder aus der Wohnung in den Flur bugsierte. Es zerriss Nayir das Herz, als sie an ihm vorbeikamen, so verstört sahen sie aus. Der Mann, offenbar der Ehemann, hatte einfach bloß Angst. »Die drei sind da drin«, sagte er überflüssigerweise und zeigte durch die offene Tür, aus der immer wieder laute Schreie drangen. Sie hörten das Krachen von Geschirr, das furchtbare Geheul eines Babys und Frauen, die sich ankeiften, wobei eine der beiden weinte, irgendwas unter Tränen schrie und dann so durchdringend kreischte, dass Nayir sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Und dann ging alles ganz schnell. Osama stürmte durch die Wohnung in die Küche. Nayir war direkt hinter ihm. Er hatte keine Angst mehr, fürchtete bloß, dass eine der Frauen auf Osama losgehen würde, der kleiner und schmaler war als er selbst. Sobald sie in der Küche waren, bewegte sich Nayir zur Seite. Er sah Blutspritzer an einer Wand und am Kühlschrank. Eine Frau lag reglos auf dem Boden, Gesicht nach unten, den Rücken voller Blut. Zwei andere standen sich auf beiden Seiten des Küchentischs gegenüber. Jede hatte ein Messer in der Hand. Auf der Arbeitsplatte stand ein Kinderkörbchen mit einem Säugling, der aus vollem Halse brüllte, aber offenbar vergessen worden war.
Einen Moment lang meinte Nayir, der Ehemann müsse ein Versager sein, weil er die Dinge hatte derart außer Kontrolle geraten lassen. Doch selbst das Eintreffen der Polizei schien die Frauen nicht zu kümmern. Diejenige, die der Spüle am nächsten stand, warf ein Messer nach der anderen, die ebenso schnell ein Schneidebrett schleuderte, und da beide Frauen sich blitzartig duckten, prallten beide Geschosse jeweils gegen die Wand. Die Frau an der Spüle keuchte vor Wut, mit beängstigend wilden Augen. Mit blutiger Hand griff sie
Weitere Kostenlose Bücher