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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Ferraris
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resigniert. »Gut, dass Sie es ihm gesagt haben.«
    Nayir sah, dass sie in das Parkhaus eines Krankenhauses fuhren. Nachdem Osama den Wagen geparkt hatte, stiegen sie aus. »Miriam ist immer noch im Krankenhaus?«, fragte Nayir, bemüht, nicht allzu erschrocken zu klingen.
    »Sie braucht noch Ruhe«, sagte Osama. »Und sie wollte nicht zurück in die Wohnung.«
    Als sie auf die Straße traten, wäre Nayir am liebsten schnurstracks zum Eingang marschiert, doch sie wurden von einem lauten Streit abgelenkt, der sich zehn Meter entfernt vor einem kleinen Geschäft abspielte.
    Eine Frau stand mit ihrem Sohn auf der Straße und schrie einen Religionspolizisten an. Sie trug kein Kopftuch, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich tiefe moralische Entrüstung. Der Mutaawa war mit dem unvermeidlichen wadenlangen weißen Gewand bekleidet. Er hielt die Augen gesenkt und sah nur einmal kurz hoch, um dem Sohn der Frau einen flehenden Blick zuzuwerfen.
    »Wir sind hier nicht im Nadschd!«, schrie die Frau. »Oder in Riad. Meinen Sie etwa, ich lass mir von Ihnen was sagen? Hä?« In der Hand hatte sie eine braune Einkaufstüte, die sie bei jedem Satz schüttelte. Der Inhalt klapperte und klimperte.
     
    Der Mutaawa schien drauf und dran, aus der Haut zu fahren. »Es ist Sünde für eine Frau, ohne Hijab auf die Straße zu gehen.«
    Zu Nayirs Bestürzung marschierte Osama mit raschen Schritten auf die Streitenden zu.
    »Verzeihung«, sagte Osama und zückte seine Dienstmarke. »Was ist hier los?«
    Der Mutaawa wandte sich ihm erleichtert zu. Die Frau dagegen schien ihn für einen weiteren Religionspolizisten zu halten und bekam einen regelrechten Wutanfall. Sie stellte die Einkaufstüte hin und kippte sie aus. Einige knallbunte Spielsachen schepperten auf den Asphalt. Dann stülpte sie sich die Tüte über den Kopf und schrie: »Bitte sehr. Seid ihr jetzt zufrieden? Ja?« Sie drehte sich mit ausgestreckten Armen im Kreis und tat so, als wäre sie blind. »Ahmad? Bist du das? Kannst du deine arme Mutter an die Hand nehmen und nach Hause bringen, weil sie nämlich ums Verrecken nichts mehr sehen kann?« Ein paar Passanten, die stehen geblieben waren und gafften, begannen zu lachen. Der Mutaawa sah immer wütender aus. »Bist du das auch wirklich, Ahmad?«, sagte die Frau. »Vielleicht sagst du ja nur, dass du mein Sohn bist. Ich kann’s nicht beurteilen. Du könntest sonst wer sein!«
    Schließlich verlor der Mutaawa die Beherrschung und packte die Frau am Arm. »Sie sind festgenommen«, sagte er, aber die Frau schlug um sich, und alle traten zurück. Der Sohn sah aus, als schämte er sich zu Tode.
    Osama stieß ihn an, und der Sohn nahm hastig die Hand seiner Mutter, flüsterte ihr etwas ins Ohr und führte die protestierende Frau weg. Als sie ein Stück entfernt waren, blieb sie ruckartig stehen und sagte etwas zu ihm. Der Junge kam zurückgelaufen und sammelte die Spielsachen ein. In sicherer Entfernung riss sich die Frau die Tüte vom Kopf und schrie: »Scheiß Mutaawa!« Der Sohn rannte zu ihr zurück und zog sie ängstlich weiter.
    Nayir hatte den Eindruck, dass der Religionspolizist sehr viel härter mit der Frau verfahren wäre, hätte Osama ihn nicht mit einem strengen Blick eingeschüchtert. Erst jetzt steckte Osama seine Dienstmarke wieder ein, während er den Mutaawa weiterhin finster anstarrte. Dann winkte er ihn weg. Verdrossen, aber kleinlaut trollte sich der Mann, gefolgt von Osamas drohendem Blick. In dessen Gesicht lag ein Ausdruck von heftigem Widerwillen, von Zorn und Frustration, was Nayir erstaunte. Immerhin hatte er schon oft genug erlebt, dass reguläre Polizisten die Mutaawaiin bei ihrer Arbeit begleiteten.
    »Wir sind hier nicht in Riad«, murmelte Osama, sobald der Mann außer Sicht war.
    Nayir war nachdenklich, als sie zum Krankenhaus gingen. Osama nahm es mit dem Gesetz offensichtlich nicht allzu genau. Eigentlich verwunderte ihn das bei einem Polizisten nicht sonderlich, aber auffällig war, dass Osama in Nayirs Beisein zweimal nicht gezögert hatte, einen Streit zu beenden, und beide Male war seine Entscheidung nicht im Einklang mit dem Gesetz gewesen. Nayir verspürte eine unangenehme Mischung aus Bewunderung und Unruhe. Er war mit Osamas Entscheidungen einverstanden, billigte aber nicht die Missachtung religiöser Vorschriften. Sie mochten ja nicht in Riad sein, aber sie waren auch nicht in Amerika.
    Auf der Station sprach Osama mit einem Pfleger über Miriam. Nayir fiel plötzlich wieder ein, warum er

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