Totenverse (German Edition)
hier war, was seinen inneren Konflikt noch mehr verschlimmerte. Wie konnte er Katya den Umgang mit ihrem Vorgesetzten verübeln, wo er doch selbst hier stand und Miriam besuchen wollte? Wo er mit ihr durch die Stadt gefahren war, allein? Wo er sie in das Haus seines Onkels gebracht und einen Abend mit ihr verbracht hatte, den er – wie er zugeben musste – genossen hatte. Katya hätte alles Recht der Welt, ihm böse zu sein.
In Miriams Zimmer ließ Osama ihn allein. Nayir setzte sich leise neben das Bett und schielte unwillkürlich verstohlen zur Tür. Selbst im Schlaf sah Miriam ängstlich aus, die Stirn gerunzelt, die Mundwinkel nach unten gezogen. Wenn sie aufwachte und ihn erblickte, würde das ihre schlimmsten Erinnerungen an die Wüste heraufbeschwören? Dinge, die sie vergessen wollte? Instinktiv wollte er gehen, solange er noch konnte, doch die Vorstellung, dass sie allein aufwachen und vergeblich nach Trost suchen könnte, erfüllte ihn mit einer großen Traurigkeit. Er betrachtete ihre Hand, die über den Bettrand hing. Ein hässlicher Bluterguss zog sich um ihr Handgelenk, wo sie gefesselt gewesen war. Die Hand selbst sah ungemein verletzlich aus, und er wollte sie nehmen und streicheln, aber er begnügte sich damit, die Decke über ihre Schultern und Arme zu ziehen und dann die Augen im Gebet zu schließen.
46
Nayir klopfte an die Tür. Niemand öffnete, also drückte er widerstrebend auf den Klingelknopf. Gleich darauf hörte er schlurfende Schritte, dann ging die Tür auf, und er sah Aymans jugendliches und leicht vertrottelt wirkendes Gesicht.
»Oh, hallo!«, sagte er. »Kommen Sie rein. Katya ist da. Mein Onkel auch.«
Nayir war froh, das zu hören, und er ließ sich von Ayman in den Salon der Männer führen, wo er sich vorne auf die Sofakante setzte und auf Katyas Vater wartete.
Fünf Minuten später klopfte es kurz, und Ayman kam mit entnervter Miene zurück. »Kommen Sie. Abu-Affe ist ausgegangen.«
»Wie hast du ihn genannt?«
Ayman blickte verlegen. »Abu-Affe.« Affenvater.
Nayir stand auf und sagte: »Du solltest nicht so über deinen Onkel sprechen.«
»Na ja, genau genommen ist ja nicht mein Onkel der Affe«, entgegnete Ayman. Nayir war nicht dazu aufgelegt, die Feinheiten der Bezeichnung zu diskutieren. » Affenvater «, wiederholte Ayman betont. »Also ist Katya der Affe. Sie macht einem das Leben schwer.«
Nayir stutzte. »Ich komm besser später noch mal wieder.«
»Besser nicht.« Aymans warnender Blick sagte: Lassen Sie mich bloß nicht allein mit der Frau .
»Ich wollte ihr bloß etwas geben«, sagte Nayir mit wachsender Nervosität. »Es geht um einen Fall.«
»Ach so. Klar.«
Und noch ehe er es Ayman geben konnte, verschwand der Junge den Flur hinunter.
Nayir folgte ihm mit wachsendem Unbehagen. Bei seinem letzten Besuch war er nicht so weit gekommen, und jetzt unangekündigt diesen Bereich der Wohnung zu betreten erschien ihm wie der Gipfel der Unhöflichkeit.
Sie saß im Wohnzimmer an einem Computer. Es lag gleich neben der Küche, von der Kaffeeduft herüberwehte. Sie trug kein Kopftuch, und ihr seidiges tiefbraunes Haar schimmerte im Licht einer Tischlampe. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie sich zunächst nicht umwandte, und als sie es tat, sah er den Grund für die Verzögerung: Sie trug einen Kopfhörer. Auf dem Monitor hinter ihr lief ein Videointerview.
Sie stutzte. »Oh!« Sie stand schnell auf, nahm den Kopfhörer ab und griff nach einem roten Tuch auf dem Schreibtisch. Sie bedeckte ihr Haar und warf Ayman einen ungehaltenen Blick zu, der hastig wieder den Rückzug antrat.
»Schön, dich zu sehen«, sagte sie. » Ahlan . Nimm Platz.« Sie deutete auf zwei Sofas hinter ihm. Trotz der einladenden Geste wirkte sie unterkühlt. Er setzte sich nicht.
»Entschuldige die Störung«, sagte er.
»Du störst nicht.« Aber ihre Worte waren förmlich, steif. Sie trug ein schlichtes, hellgraues Gewand und ein Paar alte flauschige Hausschuhe mit Leopardenmuster, das ihn irgendwie entzückte und ihm zugleich mehr denn je das Gefühl gab zu stören.
»Bitte setz dich«, sagte sie. »Ich hol dir einen Kaffee.«
»Nein, danke«, sagte er vielleicht zu schroff.
Sie stand da und starrte ihn an. Auf dem Monitor hinter ihr liefen Bilder von irgendeiner Wohnung.
»Leilas Videomaterial«, sagte sie zur Erklärung. Es war acht Uhr abends, und sie arbeitete immer noch. Ihr Vater konnte jeden Moment nach Hause kommen.
»Ich bin froh, dass du heil
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