Totenverse (German Edition)
war er innerlich ausgekühlt. Er fröstelte unwillkürlich und schaute sich nach Samir um. Stattdessen erblickte er Osama, der an einem parkenden Streifenwagen lehnte.
» Salaam aleikum «, sagte Nayir.
Osama begrüßte ihn mit einem fröhlichen Grinsen und öffnete die Wagentür. »Keine Bange«, sagte er, »die Motorrad-Hogs sind auf und davon.«
»Eigentlich sollte mich mein Onkel abholen«, sagte Nayir.
»Ich hab ihm gesagt, dass ich das mache«, entgegnete Osama. »Er hätte sich ein Taxi nehmen müssen und war ganz froh über das Angebot.«
Nayir nickte und stieg ein. Die erste Frage, die ihm in den Sinn kam – wie geht es Katya? –, löste sich prompt wieder auf. Er wollte nicht erleben, dass Osama ihm diese Frage tatsächlich würde beantworten können. Obwohl er für Osama Bewunderung – und jetzt auch Dankbarkeit – empfand, konnte er sich nach wie vor nicht damit abfinden, dass Osama mehr Zeit mit Katya verbrachte als er selbst.
»Wie geht es Miriam?«, fragte er stattdessen. Sie war in ein Krankenhaus in Qaryat al-Faw gebracht worden. Nachdem man ihm dort gesagt hatte, dass sie wieder gesund würde, war Nayir mit einem Polizisten aus Qaryat zurück nach Dschidda gefahren.
»Ich bringe Sie zu ihr«, sagte Osama.
»Wo ist sie?«
»Gestern Abend in Dschidda angekommen.«
Nayir fragte sich, wie viel Katya wohl von der Geschichte wusste. Sie musste erfahren haben, was in der Wüste passiert war. Der Polizist aus Qaryat hatte ihr bestimmt von dem gigantischen Sandsturm erzählt – für die Meteorologen inzwischen ein Jahrhundertsandsturm –, und von der erstaunlichen Entdeckung zweier Überlebender in einem Zelt über einem im Sand begrabenen Wagen. Welche Folgerungen hatte Katya wohl daraus gezogen? Hielt sie Nayir jetzt für tapfer? Dumm? Verlogen?
»Wir haben Mabus geschnappt«, sagte Osama. »Eric Walker und Jacob Marx sind tot.«
Nayir hörte zu, während Osama schilderte, was sie herausgefunden hatten, und ihm die Hintergründe zu Erics Verschwinden erklärte.
»Denken Sie, Mabus hat Leila getötet?«, fragte Nayir.
Osama überlegte eine Weile und antwortete dann mit einem unsicheren Unterton: »Nein.«
Nayirs Handy klingelte, und er klappte es mühsam mit der linken Hand auf. »Hallo?«
»Mr Sharqi?«
»Ja.« Nayir erkannte die Männerstimme nicht, aber sie klang unverkennbar amerikanisch, und das beunruhigte ihn.
»Mr Sharqi, hier spricht Taylor Shaw von SynTech. Sie waren vor ein paar Tagen bei mir und haben sich nach Eric Walker erkundigt.«
War das wirklich erst ein paar Tage her? Es kam ihm vor wie Wochen. »Ja, Mr Shaw.« Nayirs Gedanken überschlugen sich. Er schielte zu Osama hinüber, der ihm einen fragenden Blick zuwarf. Hätte er nicht den rechten Arm in der Schlinge gehabt, hätte Nayir nach Stift und Notizblock gegriffen, die praktisch am Armaturenbrett befestigt waren, und eine Frage hingekritzelt: Weiß Erics Chef, dass er tot ist?
»Ich rufe an, weil wir unser fehlendes Überwachungsequipment gefunden haben«, sagte Mr Shaw. »Der Karton war offenbar falsch eingeräumt worden.«
»Aha«, sagte Nayir. »Dann wurde also doch nichts gestohlen.
»Tja, da sind wir noch immer nicht sicher. In dem Karton waren ein paar Sachen, die nicht hineingehören. Wir vermuten, Walker hat sich die Geräte heimlich ausgeliehen. Jedenfalls war etwas, das ihm gehört, mit in der Kiste. Ich habe schon bei der Polizei angerufen, aber die sagen mir nicht, wie ich Eric erreichen kann, und da habe ich gehofft, Sie könnten mir weiterhelfen.«
Nayir holte tief Luft und warf Osama einen vernichtenden Blick zu. »Mr Shaw, ich muss Ihnen leider sagen, dass Eric Walker tot ist.«
Schweigen am anderen Ende. Nach einem Moment räusperte sich Shaw. »Großer Gott. Das ist ja furchtbar.«
»Ich komme gerne bei Ihnen vorbei, um seine Sachen abzuholen«, sagte Nayir rasch. »Seine Frau würde sie bestimmt gern haben.«
»Ja. Ja, selbstverständlich.« Shaw wirkte geschockt. »Sie müssen entschuldigen. War es ein Unfall?«
»Ja.« Nayir stand nicht der Sinn nach längeren Erklärungen. »Sind Sie heute am späten Nachmittag im Büro?«
Sie vereinbarten einen Termin für den folgenden Tag, da Shaw am Nachmittag in Riad eine Besprechung hatte und dort übernachten würde. Nayir dankte ihm und legte auf.
»Das war Erics Chef«, sagte er. »Die Polizei hat sich geweigert, ihm irgendwelche Auskünfte zu geben.«
Osama schüttelte offensichtlich verärgert den Kopf. Dann seufzte er
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